Vergebung ist das Tor zum Frieden

von Andy Lang, Ostern 2022

Hier ist alles verschneit. Anfang April. Und dennoch ist bald Ostern. Aber so wie die Natur uns das augenfällig zeigt, ist es auch auf der Seelenebene: Vor der Auferstehung liegt der Tod. Vor dem Frühling bäumt sich der Winter noch einmal auf. Karfreitag ist vor Ostersonntag.

Noch nie hat meine Generation solch eine bange Karzeit erlebt, die ihrem Namen alle Ehre macht: Denn „Kar“ kommt vom altdeutschen Wort für Weinen. Und wieviele Tränen sind in den letzten eineinhalb Monaten geflossen: Tränen von Familien, die sich ins Ungewisse trennen müssen, weil die Väter bleiben und die Mütter mit den Kindern flüchten. Tränen von Menschen, die ihre Liebsten verloren haben – auf beiden Seiten. Tränen der Verzweiflung, der Trauer, des Verlusts. Tränen, die nicht geweint werden sollten, weil es diesen Krieg gar nicht geben sollte, wenn wir denn wirklich etwas gelernt haben aus den letzten 75 Jahren. Ich denke auch an die geweinten und ungeweinten Tränen von sensiblen Menschen, Jugendlichen, Mittelalten, Alten, die aus Mitgefühl mit den Opfern und aus eigener Angst vor einer drohenden Eskalation fließen.

Angesichts all dieser Tränen und ihrer Trauer, Wut und Verletzung kann man sich fragen, wie Vergebung eigentlich möglich ist? Sie scheint so weit weg und so unrealistisch.

Ein erster Schritt ist, wenn wir uns eingestehen, dass wir nicht perfekt sind. Dass wir Fehler machen, und das immer wieder. Nicht weil wir es wollen oder von grundauf böse sind, sondern weil wir alle unsere spezifischen Muster haben, denen wir manchmal unreflektiert folgen. Besonders unter Ehepartner scheint es extrem schwierig zu sein, sich Fehler oder noch schlimmer Schuld einzugestehen. Weil man die Reaktion des Partners fürchtet und Angst hat, seine/ihre Liebe zu verlieren, sagt man lieber gar nichts. Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Und so beginnt die Spirale der Unaufrichtigkeit.

Vergebung zu erbitten, braucht ungeheuren Mut. Vergebung zu gewähren, braucht noch mehr Mut – und Großherzigkeit. Es ist wahrhaft nichts für Anfänger. Vergebung zu verweigern jedoch ist ein Zeichen von Schwäche. Das Ungleichgewicht bleibt erhalten und droht weiteren Schaden anzurichten.

Um dem schweren Thema ein wenig die Spitze zu nehmen, erzähle ich euch hier eine kleine Geschichte, die sich letzte Woche ereignet hat. Eigentlich geht es um nichts – und doch um viel. Es beginnt mit einer Beichte – meiner Beichte:

Ein herrlicher Vorfrühlingsabend. Die Sonne geht blutrot im Westen unter. Ich will das unbedingt sehen und springe ins Auto, um auf der Anhöhe noch eine Chance auf den Sonnenuntergang zu haben. So erhebend! Beim Zurückfahren dämmert es schon. Neben der kleinen Straße liegen 4 dünne Birkenstämme, an denen ich schon oft vorbeigefahren bin. Zuhause habe ich eine Seminargruppe zu Gast, denen ich gern ein Lagerfeuer bereiten möchte. Also halte ich spontan und lade die 4 Holzstücke ein. Viel denke ich mir nicht dabei, außer dass es schade wäre, wenn sie im Wald verrotten. Der Materialwert liegt unter einem Euro. Ich fahre auf der einsamen Straße weiter und komme eine Minute später zuhause an. Nach wenigen weiteren Minuten joggt eine ältere Dame, die ich vom Sehen kenne, meinen Berg hinauf. Mir schwant es: Es waren ihre Birken. Wie unangenehm! Ich gehe auf sie zu und sage freundlich: „Oje, ich glaube, ich habe Ihr Holz geklaut. Das tut mir leid, ich bringe es gern zurück.“ Zugleich denke ich: „Andy, du Idiot, warum hast du das gemacht?“. Was dann folgt, ist eine Tirade, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Immerhin spuckt sie nicht vor mir aus, aber viel fehlt nicht dazu. Ich bleibe ruhig und entschuldige mich noch mal. Alles vergebens. Keine Vergebung. Die Dame zieht ab, ich bin ziemlich zerknirscht und auch beschämt und fahre natürlich das Holz zurück (obwohl sie sich das ausdrücklich verbeten hat).

Abends erzähle ich meiner Frau davon. Auch sie war verwirrt über die Agression, mit der die Dame aufgetaucht war. Aber natürlich bekam ich auch von Corien noch mal einen Rüffel. Zurecht. Gut geschlafen hab ich in der Nacht nicht.

Ganz anders am nächsten Tag. Ich bin im Nachbardorf bei meinem Freund Ferdl. Er hat sein ganzes Leben lang im Sägewerk gearbeitet und liebt Holz. Und er schärft meine Kettensäge. Beim Schärfen erzähle ich ihm die Geschichte. Als ich beginne mit: „Ferdl, stell dir vor, ich habe gestern Holz geklaut“ sagt er etwas ganz Ungewöhnliches, mit dem typischen Ferdl Grinsen: „Na Andy, a weng Holz Klauen ist doch prima. Aber das nächste Mal klaust du´s bei mir. Ach, ich hab so viel Holz, ich verschüre es sogar!“

Wir lachen beide. Und Ferdl ermahnt mich, dass ich mir keine weiteren Sorgen machen soll. Ich erzähle ihm von der ukrainischen Familie, die wir bei uns im Loft aufgenommen haben. Dort kann man nur mit Holz heizen. Da grinst Ferdl zum zweiten Mal und winkt mir, mitzukommen. Hinter der Scheune steht ein Fuhrwerk mit Brennholz. „Das schenk ich deinen Unkrainern“ sagt Ferdl fröhlich. Ferdl ist ein Meister der Fröhlichkeit und des Großmuts! Als ich das gesägte Holz ein paar Tage später abhole, kann ich es immer noch nicht fassen, wie aus 4 Birkenstämmchen 2 Kubikmeter Holz wurden, die nun eine ganze Familie wärmt.

Die Magie dieser Verwandlung steckte in der Vergebung. Die wurde mir zwar nicht von der ursprünglichen Person zuteil, aber auf der universellen Ebene durch Ferdls Großzügigkeit und meinen kleinen Mut zur Beichte.

Vielleicht bringt Ostern eine Zeit der neuen Freundlichkeit: Uns selbst gegenüber, indem wir Fehler eingestehen können. Unseren Nächsten gegenüber, indem wir die Größe finden, ihnen zu verzeihen. Unserer Erde gegenüber, die uns trägt und erhält und die wir mit größerer Freundlichkeit behandeln werden als bisher.

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