Was ist Heimat?

von Andy Lang

Vermutlich hat sich jeder von euch schon mal diese Frage gestellt: Wo bin ich zuhause?

Was ist für mich Heimat?

Bevor ich meine Gedanken mit euch dazu teile, bitte ich euch um ein kurzes Innehalten:

Nehmt euch eine Minute Pause und überlegt: Was gibt mir Halt, Geborgenheit und Zugehörigkeit? Idealerweise macht ihr euch ein paar Notizen.

Fertig? Na, dann leg ich mal los:

Heimat ist so unendlich viel mehr als was in einem Heimatministerium verwaltet werden könnte. Es ist ein zutiefst individueller Begriff und daher wird ihn auch jeder anders füllen.

1. Für manche Menschen wie mich ist Heimat eng verbunden mit einem Stück Land, der Scholle, auf die ich geworfen bin. Wenn ich in der Abenddämmerung am Westrand des Fichtelgebirges stehe und in die Weite blicke, fühle ich mich zutiefst verwurzelt. Ich denke an das alte Volkslied aus Österreich, das von der Vertreibung der ev. Christen im 17. Jahrhundert singt und das ich als Teenager von Hannes Wader gehört hatte:

Andre, die das Land so sehr nicht liebten, warn von Anfang an gewillt zu gehen
Ihnen, manche sind schon fort, ist besser, ich doch müsste mit dem eignen Messer
meine Wurzeln aus der Erde drehen.“

Meine Frau dagegen ist in ihrem Leben 16 Mal ungezogen – schon als Kleinkind, dann als Schulkind, als Teenager, als Studierende usw. Für sie ist es ungleich schwieriger, solche intensiven Gefühle zu einer besonderen Gegend zu entwickeln.

Und dennoch: Landschaft und Natur können uns beide auf tiefe Weise bewegen. Wenn wir immer mal wieder achtsam und mit einer bestimmten Haltung und auch Erwartung in die Natur gehen, werden wir ohne Worte daran erinnert, wohin wir gehören: zur Erde, denn ihre Kinder sind wir und zu ihr kehren wir zurück. Fjodor Dostojwski brachte das mit wenigen Worten auf den Punkt: „Liebe die Erde und küsse sie!“

2. Heimat hat unbedingt mit den Menschen zu tun, die uns verbunden sind und die wir in unserem Lebenskreis aufgenommen haben. Der Begriff Zugehörigkeit trifft es hier besser und er ist in der keltischen Weisheit ein Kernbegriff: Nur wer im Kreis seiner Zugehörigkeit ist, kann auch ganz in seiner Kraft sein. Weil das ein wesentlicher Bestandteil auf dem Weg in die eigene Lebensfreiheit ist, habe ich dem Thema Zugehörigkeit ein ganzes Kapitel gewidmet in meinem Buch „Auf den Pfaden der Freiheit“. Der Kerngedanke besteht in einem Wechselspiel von Achtsamkeit und Dankbarkeit. Wenn wir uns liebevoll all der Menschen erinnern, die uns gut tun und begleiten, wird unser Herz von tiefer Dankbarkeit erfüllt sein. Aus der Visionssuche Arbeit gibt es dabei eine schöne und einfach Übung: Wir stellen uns in Gedanken in einen Kreis unserer Lieben und empfinden, wie sie uns ansehen und auf unser Leben blicken. Dabei ist nicht so sehr die Anzahl der Menschen als vielmehr die Intensität ihrer Blicke auf uns bedeutend. Probiert diese Übung ruhig mal für euch aus.

Heimat ist überall, wo die Liebe zur Erfahrung wird”, schreibt der Philosoph Wilhelm Schmid in seinem neuen Buch „Heimat finden“.

3. Über so mancher irischen Haustür hängt der Spruch „Home is, where the heart is“.

Was aber gibt meiner Seele und meinen inneren Kräften Heimat und Verbundenheit?

Ich denke an Rituale, die mir helfen, mich in meinem Alltag zurechtzufinden:

  • Das Gebet vor dem Essen erinnert mich daran, dass es nicht mein Verdienst allein ist, die Familie ernähren zu können;
  • das morgendliche Bad im Brunnen ist eine unendliche Quelle von Erfrischung;
  • eine Freundin steht vor der Familie auf und verbringt eine gute Viertelstunde in der Stille in ihrem Garten und fühlt sich dann gestärkt für den kommenden Tag;
  • ein befreundetes älteres Ehepaar beschließt jede Woche mit zwei Saunagängen und bespricht sich miteinander im Rückblick;
  • ein Freund mit 6 Tageswoche trinkt abends ein Glas Wein mit seiner Frau vor dem Kamin – manchmal schweigen sie einfach und schauen in die Flammen.

Diese Liste ließe sich beliebig verlängern und soll Lust darauf machen, eigene Rituale zu entdecken. Sie alle werden schlicht sein, alltagstauglich und nichts kosten außer Aufmerksamkeit und ein wenig Zeit und v.a. Disziplin.

Ich schreibe heute über dieses Thema, weil Corona Heimat bedroht. Gewohnte Abläufe, berufliche Möglichkeiten, das Genießen besonderer Orte und noch viel mehr rüttelt an unserem Selbstverständnis und an unserer Beheimatung in dem, was wir als Konstrukt „mein Leben“ nennen.

Aber wir sind dem nicht hilflos ausgeliefert. Wenn wir Heimatvirtuosen werden, können wir Verbundenheit und Zugehörigkeit an ungeahnten Orten finden.

Paulus, ein Wanderprediger ohne spezifische Heimat, schreibt:

Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, schau, Neues ist geworden

(2. Kor 5,17)

Dieses Leben in Christus ist letztlich die Zugehörigkeit, zu der wir gerufen sind. Niemand kann sie infrage stellen, nichts kann sie zerstören, nicht einmal unser eigener Zweifel und Unglaube. Diese Heimat existiert außerhalb von uns und durchdringt uns doch ganz.

Gern mag ich mich in dieser Gewissheit üben.

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