Was macht gutes Leben aus?

Gedanken von der Alm

Ich verbringe heuer einen Teil meines Sommerurlaubs bei meinen Künstlerfreunden Dominik und Claudia auf der Alm – mitten im Heidi Land, im schweizerischen Graubünden. Wer die Kult Zeichentrickserie aus meiner Kindheit oder den aktuellen Film über die Geschichte von Johanna Spyri gesehen hat, kann sich gut vorstellen, wie es hier aussieht: Satte Bergwiesen mit einem Heer von Blumen und Kräutern, tiefblauer Enzian, das weite Rund der Berge, die jäh ins Albulatal abstürzen, ab und zu eine einsam gelegene Almhütte wie diese hier, die „Alpe Vedra“ (alte Alm) und zu all dem satten Panorama der immerwährende soundtrack der Kuhglocken.

Dominik, aufgewachsen in einem kleinen Südtiroler Bergdorf und schon immer ein Naturbursche, verdingt sich hier seit acht Jahren im Sommer für dreieinhalb Monate als „Älpler“ – ein guter Kontrast zu seinem urbanen Leben in Wien und seinem polyglotten Touren als Liedermacher. Sein Job ist es hier, jeden Tag die 204 Kühe und Kälber der Milchbauern aus dem Tal zu zählen, sie auf die saftigsten Weiden zu treiben und v.a. sicherzustellen, dass sie nicht ausbüchsen, indem er die Zäune prüft und ggf. repariert. Das ganze auf 2000 – 2700 Metern über dem Meeresspiegel: seine tägliche Runde dauert zw. fünf bis sechs Stunden und umfasst an die 15 Kilometer und ungezählte Höhenmeter. Wenn er nachmittags heimkommt, ist das Tagwerk vollbracht  – außer er hat gerade Lust zum Holzhacken, Pilze suchen oder Abspülen. Heißes Wasser gibt es auf dem Holzofen oder – sehr luxuriös – mit etwas Campinggas. Vor der Hütte steht ein großer Wassertrog mit frischem Bergwasser – ein Badezimmer mit unverbaubarer Aussicht. Wenn ich mich morgens in die Tränke lege, springt Charlie, der Hirtenhund herbei und will mich aus den Fluten retten. Auch nach einer Woche hat er scheinbar noch nicht begriffen, dass ich das freiwillig mache.

Das Leben auf der Alm ist beschaulich, unaufgeregt und v.a. herrlich analog. Es gibt kein W- Lan, also bin ich seit langer Zeit mal wieder etliche Tage lang offline. Sms geht, aber mein Handy liegt in der Ecke und das ist gut so. Gestern bekam ich so eine sms. Sie stammte von jemanden, der sich per mail am Vortag zu einem Seminar angemeldet hatte und sich nun wundert, warum er nach 24 Stunden noch keine Bestätigung hat.  Grundsätzlich bin ich ein zuverlässiger email Beantworter. Nun aber kommt mir diese Kommunikation vor wie aus einer anderer Welt. Schon nach 5 Tagen hat mich die Entschleunigung auf der Alm voll erfasst. Ich lächle und lege das Handy weg. Die sms bzw. mail muss noch solange Zeit haben, bis ich wieder im Tal bin – zurück in der „Zivilisation“. Fast schon drängt sich hier, im Bergparadies die Frage auf: Was macht gutes Leben aus?

Die Autorin Vivian Dittmar (www.viviandittmar.net) hat sich lange mit einer Frage beschäftigt, die eine Spur zum guten Leben weisen kann: worin besteht denn eigentlich Wohlstand? Die gängige Definition über die Höhe des Bruttoinlandsprodukts schien ihr nicht mehr zu tragen, wenn man zeitgleich sieht, wie die Menschen durch ihr Leben hasten und dabei immer unglücklicher werden. Anders gefragt: Warum sind die Finnen schon wieder das glücklichste Volk der Erde und zugleich als Volkswirtschaft von den Umsätzen der großen Industrienationen wie Deutschland oder Frankreich weit  entfernt. Was also ist gutes Leben? Lässt sich Wohlstand anders bemessen?

Vivian benennt 5 Lebensfelder, mit denen sie ein alternatives Paradigma zu Wohlstand und damit zu gutem Leben anbietet. Als ich zum ersten Mal davon höre, fallen mir Schuppen von den Augen. Es soll hier genügen, die fünf Felder als Stichworte zu benennen – sie sprechen so für sich, dass sich jeder selbst seine Gedanken dazu machen kann – auf einen Austausch mit euch bin ich echt gespannt:

  1. Zeitwohlstand: Kann ich mit Muße und Freude die Dinge tun, die mir wichtig sind?
  2. Beziehungswohlstand: Lebe ich erfüllende und inspirierende Freundschaften und Partnerschaften?
  3. Kreativer Wohlstand: Kann ich mich so ausdrücken, wie es meinen Gaben entspricht?
  4. Spiritueller Wohlstand: Empfinde ich Sinn in meinem Leben und sehe ich es eingebettet in einen größeren, sinnvollen Zusammenhang?
  5. Ökologischer Wohlstand: Ist mein Lebensumfeld geprägt von gesunder Natur, die mir auch an Körper und Seele gut tut?

Es ist augenfällig, dass Vivian Dittmar scheinbar ganz bewusst die Kategorie „monetären Wohlstand“, die bisher das alleinige Kriterium war, einfach weglässt.

Wenn ich hier auf der Alm darüber nachdenke, wird mir klar, warum: Wir brauchen echt ganz wenig, um glücklich zu sein. Nicht mehr von allem, sondern genau das Gegenteil erfüllt mich hier mit großer Zufriedenheit. Und: Es ist genug für alle da – hier oben zumindest ist das augenfällig. Und zugleich liegt eine große Befriedigung darin zu lernen, wie wir Ressourcen sinnvoll und effizient nutzen können, weil sie hier (außer dem Wasser) nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen bzw. aufwendig aus dem Tal heraufgebracht werden müssen. Wenn der Ofen brennt, wird natürlich ein Topf mit Wasser draufgestellt. Wenn der Spülschwamm seinen Dienst getan zu haben scheint, wird er in die Sonne gelegt, weil UV Strahlung stark antibakteriell ist. Wenn ein Fleck auf der Hose ist, laufen wir trotzdem weiter damit rum.

Zugegeben: Gestern „gestand“ mir Claudia auf meine Frage, worauf sie sich nach über drei Monaten Alm zuhause freut: „Auf meine Waschmaschine“. Ihre knapp sechs Jährige Tochter freut sich auf die Vorschule und die Freunde, die sie wieder treffen wird.

Es geht also nicht um ein naives „zurück zur Natur“. Es geht um das Bewusstsein, wie wir unser Leben gestalten wollen. Wo wir mitmachen und wo wir uns bewusst auch mal entziehen.

Weniger ist mehr. Ich werde versuchen, diesen Gedanken in meinem Alltag zu verankern. Und dann werde ich mich freuen: Über mein gutes Leben!

Andy Lang

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