Sei kein Opfer
Eine unrühmliche Szene aus meiner Kindheit: Es war ein herrlicher Sommertag, der 5 jährige Andy spielte selbstvergessen und glücklich im Garten. Wie die Situation kippte, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich, dass ich wutentbrannt die herumliegende Hacke ergriff und die Verfolgung aufnahm: Mein 7 Jahre älterer Bruder hatte mich entweder durch seine uneinholbare körperliche Überlegenheit oder durch perfide geistige Dominanz zur Weißglut gebracht und ich konnte mir nicht mehr anders helfen. Er nahm die Beine in die Hand und weil diese zum Glück wesentlich länger waren als meine kam es nicht zum vernichtenden Schlag. Aber mein Bruder erzählt mir noch heute mit über 60 Jahren, dass er damals Angst vor mir hatte, dem kleinen Knirps mit dem hochroten Kopf. Gut möglich, dass bei mir sämtliche Sicherungen – falls es die in einem fünfjährigen Jungen schon gibt – durchgebrannt waren. Einmal zu oft verspottet, klein gemacht, unterdrückt. Natürlich schäme ich mich dieser Szene heute, aber es gibt einen guten Grund sie zu erzählen:
Jahrzehnte später hatte ich ein unvergessliches Gespräch mit meinem weisen Freund Gerd. Er war ein Berufsleben lang Richter am Oberlandesgericht gewesen und hatte als erste Maßnahme seines Ruhestands ein Schlichtungsinstitut gegründet. Seine Überzeugung: In einer Vielzahl von Fällen vor Gericht geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern ums Rechthaben. Und dann sagte Gerd diesen Satz: „Es sind die Opfer bzw. die, die sich dafürhalten, die mit unvergleichlichen und völlig übertriebenen Mitteln zurückschlagen. Weil sie Unrecht erlitten haben, meinen Sie nun das Recht zu haben, mit einem noch größeren Schlag zu kontern. Erst wenn sie aufhören, Opfer zu sein, kann ein angemessener Ausgleich stattfinden.“
Ich war damals frischgebackener Pfarrer und bei mir ging ein ganzes Kopfkino an. Ich dachte an die alttestamtliche Erzählung von Jakobs Söhnen, die wegen der Schändung ihrer Schwester Dina eine ganze Stadt ausgerottet hatten (Gen 34). Auch die oft als typisch alttestamentlich geschmähte Formel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ging mir durch den Kopf und ich verstand, dass dies keine grausame archaische Vergeltungsdoktrin war, sondern die kluge Begrenzung einer Gewaltspirale, die sich sonst ungehindert fortsetzen würde.
Heute fallen mir noch aktuellere und globalere Beispiele ein: Wie kann ein Land dermaßen grausam und effizient gegen ein völlig unterlegenes Nachbarvolk vorgehen wie es der Staat Israel tut? Ich höre nur die Vokabel „Vergeltung“ in den statements seiner Regierung, aber es waren nicht vornehmlich die Menschen in Palästina, die unsägliches und unermessliches Leid durch die Jahrtausende über die Juden gebracht haben, sondern imperiale Mächte wie die Römer und Nazideutschland. Der Kelch des Leidens ist so übervoll, aber die Gewaltspirale wird weitergehen, bevor das Opferdenken endlich aufhört und Versöhnung geschehen kann. Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede hier nur über das militärische Gebaren eines Landes, das sich zudem als säkulares Gebilde versteht und distanziere mich von jeglichem Antijudaismus[i].
Ich denke an mein eigenes Land, das federführend und doch gemeinsam mit seinen Nachbarn den ersten Weltkrieg herbeigeführt hat und dennoch im Versailler Friedensvertrag die alleinige Kriegsschuld bekam und v.a. die alleinigen Reparationsleistungen. Der britische Starökonom John Maynard Keynes war damals als Beobachter in Versailles dabei und warnte seine Regierung, dass dieser Vertrag in seiner Umsetzung tausendfachen Hungertod in Deutschland nach sich ziehen würde – und den nächsten Krieg. Leider sollte er recht behalten, denn die Deutschen haben sich erst als Opfer eines ungerechten und diktierten Friedens empfunden und sind dann dem größten Verführer aller Zeiten gefolgt, der für die Schmach und Kleingeschrumpfheit der deutschen Psyche mit Größenwahn und Gewaltorgien Satisfaktion einforderte.[ii]
Was geht uns das heute an? Sehr viel, möchte ich sagen.
Denn wir stehen ebenfalls an einer Zeitenwende: Können wir das Friedensprojekt Europa erhalten, das nach dem 2. Weltkrieg wie durch ein Wunder, harte Versöhnungsarbeit, exzellente Persönlichkeiten, klugen politischen Ausgleich und nicht zuletzt durch die Protektion und Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika geglückt ist? Oder sind wir so geschichtsvergessen und vielleicht auch persönlich gekränkt und mit Abstiegsängsten in der Opferhaltung, dass wir erneut Hasardeuren und Verführen verfallen, die allein ihre Nation „great again“ machen wollen ohne Rücksicht auf das Wohl ihrer Nachbarn und der Welt?
Ausgleich, Versöhnung, Gerechtigkeit, Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit – das sind alles Werte, die im täglichen demokratischen Kräftespiel neu verhandelt werden müssen. Es gibt keine Hau Drauf und Schluss Lösung und schon gleich gar nicht die eine Führungspersönlichkeit, die schon alles richten wird. Wer an so etwas glaubt, hat sich bereits aufgegeben. Mit welcher destruktiven Macht solche „Führer“ den Wohlstand und die Werte von Generationen zerstören und die Zukunft unserer Kinder und Enkel aufs Spiel setzen, können wir fassungslos und in Echtzeit sehen.
Glauben wir an Europa als Friedensprojekt – auch wenn es anstrengend und mühsam ist und manchmal nervt, weil es so langsam geht!
Genauso, wie es wehtut, die eigenen Kränkungen und Wunden anzusehen, ihnen einen Platz zu geben und sie genau dadurch ihrer zerstörerischen Macht der Opfermythologie zu entkleiden. Dieser Schmerz lohnt sich, denn wir werden hinter und durch ihn eine ungeahnte Freiheit entdecken.
Wir alle sind Europa! Wir alle gehören zusammen!
Ich danke meinem Bruder, dass er mich das damals gelehrt hat.
Andy Lang, 21.2. 2025
[i] Der Begriff „Antisemitismus“ wird im Sprachgebrauch allgemein als antijüdisch verstanden, aber Semiten sind in einem viel weiteren Sinne alle Völker, deren Sprache zu den semitischen Sprachen zu rechnen ist, also Araber, Hebräer, die aramäische Sprachfamilie – mit Syrien und Persien – und sogar Athiopier und Malta.
[ii] John Maynard Keynes, Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles, 1919