Wahrhaftigkeit
Gedanken von Annemarie Ritter
Ich bin zu Besuch bei einem Mann aus meiner gebärdensprachlichen Gemeinde – Anfang 80, seit langem alleinlebend. Ich kenne ihn seit 25 Jahren, aber ich weiß wenig über ihn; er erzählt kaum von sich, weicht Fragen eher aus. Nun hatte er sich ein Gespräch gewünscht. Schon vor Monaten hatte er mich darum gebeten, es dringend gemacht – und dann immer wieder abgesagt, den vereinbarten Termin verschoben wegen dringender anderer Verpflichtungen. Ich hatte das Gefühl, dass er sich nach dem Gespräch sehnte und zugleich Angst davor hatte.
Er hat Kaffee gekocht, stellt eine herrlich altmodische, verschnörkelte Porzellankanne auf den Tisch und zwei dazu passende Tassen, gießt den Kaffee ein. Ich sitze ihm gegenüber. Er beginnt zu erzählen. Von der Frau, mit der er seit einigen Jahren befreundet ist. Viel jünger ist sie als er. Sie tasten nach dem Maß an Nähe und nach der Form von Beziehung, die ihnen guttut. – Von seinen Berufen erzählt er; von seinem ehrenamtlichen Engagement. – Von früher, als er jung war. Von seinem tyrannischen Lehrmeister und dem zuständigen Betreuer beim Jugendamt, der mit jenem unter einer Decke steckte… – Ich wage eine vorsichtige Frage nach seinen Eltern. – „Ich war schon mit zwei Jahren Vollwaise“, sagt er, „die Mutter an TBC gestorben, mit 27 Jahren; der Vater in Stalingrad vermisst“. Ich schlucke; wir schweigen einen Moment. Dann erzählt er weiter – im Plauderton, ohne Bitterkeit, ohne Wertungen spricht er von den Höhen und Tiefen, den hellen und den dunklen Phasen seines Lebens. Von seinem Nachdenken über das, was die Zukunft bringen könnte. Mein Kaffee ist inzwischen kalt, seiner auch. Wir merken es kaum, so intensiv sind wir in den Erinnerungen und Bildern seines Lebens unterwegs. – Schließlich gleitet ein spitzbübisches Lächeln über sein Gesicht und er erklärt: „Wenn man mich heute fragen würde, ob ich dieses Leben nochmal nehme – ich würde sofort ja sagen – mit allem…“ Ich bin beeindruckt. „Hut ab“, denke ich und sage ich – in der Gebärdensprache ist das eine ausdrucksstarke Gebärde; intensiver in der Bedeutung als wir Hörenden den Ausdruck verwenden.
Ich schaue ihn an; sein altes Gesicht hat einen ganz jugendlichen Ausdruck angenommen. Seine Züge erschienen mir noch nie so weich und entspannt wie heute; seine Augen noch selten so strahlend. Ein Mensch in seinem Gewordensein – mit allem, was war; mit allem was ist… in seiner Wahrheit… wahrhaftig, echt… und darin schön, von innen heraus wunderschön. So empfinde ich ihn in diesem Moment.
Ich mag das englische Wort für „wahr“: „true“. Es bedeutet auch „echt“, „aufrichtig“, „treu“. All das schwingt mit, wenn ein Mensch sich zeigt, wie er ist; wenn ein Mensch zu sich steht mit all den Facetten, die zu ihm oder ihr gehören.
Als ich mich verabschiede, fühle ich mich beschenkt. Und ich spüre den Impuls, für mich selbst nachzuspüren: Wie ist das bei mir? Wie geht es mir mit meiner Wahrheit? Mit dem, was in meinem Leben war und ist; mit meinem Gewordensein?
Ein treuer Freund ist ein starker Schutz; wer den findet, der findet einen großen Schatz.
Sirach 6, 14
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