Dazugehören

In meinem letzten Guten Gedanken habe ich eine Szene beschrieben, die ich vor vier Wochen im Westen Kanadas erleben durfte: ich war dort unterwegs auf dem Dakota Ridge – einem Waldgebiet in 1200 Meter Höhe im Land der Squamish Indianer im Südwesten von British Columbia. Dort war ich eingetaucht in eine perfekte Harmonie aus Stille, Landschaft, Schnee und –  Stille. Das Gefühl, Teil dieser großartigen Umgebung zu sein, hatte mich tief berührt. Zugehörigkeit pur!

Ein paar Tage später dann das krasse Gegenteil: Ich war am Ende meiner Reise und verbrachte noch zwei Tage mit Corien in Vancouver, der größten Stadt im Westen Kanadas. Mit ihren himmelstürmenden Wolkenkratzern in Downtown, die die Locals „High Rises“ nennen, Giganten, die in ungewöhnlichen Formen bis zu 60 Stockwerke hoch in den Himmel schießen, kann Vancouver es durchaus aufnehmen mit Manhattan. Weil die Stadt malerisch zwischen Ozean und den Bergen liegt, nannte es Bundeskanzler Helmuth Schmidt die schönste Stadt auf Erden. Ich habe dort ein anderes Gefühl: Klar, ich bin beeindruckt von der moderneren, ausgetüftelten Architektur und nehme staunend wahr, wie entspannt sich die Menschen zwischen den Häuserfluchten bewegen. Aber ich fühle mich fremd. Entwurzelt. Auf das bloße Funktionieren eines Touristen reduziert. Ich hasse es – dieses Gefühl, hier fehl am Platze zu sein.

Die Wende kommt, als Corien und ich am Sonntag morgen in die Christ Church Cathedral gehen – die Kathedrale ist mitnichten wie in einer europäischen Metropole das Zentrum des Platzes, auf dem sie steht, sondern duckt sich bescheiden unter die Häuserriesen an ihren Flanken. Drinnen jedoch herrscht eine heimelige Atmosphäre, die dunkle, kunstvoll geschnitzte neogotische Balkendecke hat etwas von einem Zelt. Ich fühle mich plötzlich zuhause, unterwegs auf vertrautem Terrain. Dann beginnt der Gottesdienst: Mit einer feierlichen Prozession ziehen Menschen in bunten Gewändern unter dem erhabenen gregorianischen Gesang eines Chores in Andacht zum Altar. Nach dem trinitarischen Gruß kommt dann die Überraschung: Statt gestelzter binnenkirchlicher Sprache sagt der Zelebrant – er heißt Matthew und ich werde ihn später als zugewandten und witzigen Kollegen beim Kirchenkaffe kennenlernen: „Wir erkennen voll Demut an, dass wir hier auf dem Gebiet der indigenen Völker der Squamish Gottesdienst feiern dürfen.“

Wow, so etwas habe ich noch nie gehört! Die anglikanische Kirche Kanadas hat sich offenbar der Unrechtsgeschichte der Enteignung und Vertreibung der First Nations gestellt und die Wertschätzung, dass die Indianer eben zuerst da waren – daher First Nations – zum Teil ihres Gottesdienstes erhoben. Auch wenn unter den vielleicht 200 Gottesdienstbesuchern nur ein oder zwei Angehörige der Ureinwohner sind, hat diese Eröffnung mehr als Symbolgehalt: Es ist eine Geste der Anerkennung, der Wertschätzung, ein „Ich sehe dich“.

Und damit, ihr Lieben sind wir bei unserem Thema: Zugehörigkeit. Ich glaube, wir können es kaum unterschätzen, wie wichtig diese Empfindung für uns alle ist: Das tiefe Wissen, am richtigen Ort zu sein, im stimmigen Körper angekommen zu sein, teilzuhaben an den wichtigen Entwicklungen unserer Umgebung, Selbstwirksamkeit zu erleben und zu leben. Wer das von sich sagen kann, darf sich glücklich nennen. Wer es nicht kann, ist bestenfalls auf der Suche und im schlimmsten Fall verzweifelt – und lässt seinem Unglück Taten der Verzweiflung folgen. Wir sehen das leider überall in unserer Welt: Im Krieg, den wir für überwunden geglaubt haben genauso wie in der sinnlosen, konsumorientierten Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen. In der Verachtung unserer Mutter, der Erde.

Einer, der sich mit jeder Faser seines Seins zugehörig fühlte und diese Sicherheit nicht nur ausstrahlte, sondern seine Mitmenschen damit ansteckte – ihn feiern wir an diesem Osterfest.

Wie verbunden Jesus mit der Quelle allen Lebens war, mit seinem Vater, den er liebevoll „Papa“ nannte, belegt ein Vers aus dem Johannesevangelium:

Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn. Denn der Vater hat den Sohn lieb;

(Joh. 5,19)

Diese unhinterfragbare Einheit des Sohnes mit dem Vater ist die Grundlage von Jesu machtvollem Wirken. Weil Jesus weiß, wer er ist, wo er herkommt und was sein Auftrag hier ist, kann er alles andere hintenanstellen.

Ich bin fasziniert von so viel Verbundenheit, von solch starken Wurzeln. Ich frage fast automatisch, wie das bei mir ist, wie es bei dir ist: Wissen wir, dass wir geliebt sind? Haben wir von unseren Eltern ein gerüttelt Maß an Zuwendung und Wertschätzung bekommen, völlig unabhängig wie süß, erfolgreich oder angepasst wir waren? Unkonditionale Liebe, einfach weil wir da waren?

Jeder von uns wird diese Frage wohl anders beantworten, und auch da, wo Eltern ihr Bestes gegeben haben und keine unangemessenen Erwartungen an ihre Kinder, an uns gestellt haben, gab es bestimmt Brüche und Verletzungen.

Wo also kann die Quelle unserer Zugehörigkeit liegen, wenn unsere Herkunftsfamilie ein unsicheres Terrain ist? Wie kann ich ein Teil dieser liebevollen Gemeinschaft werden, die sich zwischen Jesus und seinem Abba ereignet?

Vielleicht, indem ich mich einfach in diese Gemeinschaft hineinnstelle, weil ich ein Mensch bin: Ein geliebtes Kind Gottes, ihre Tochter oder sein Sohn. Von hier aus darf ich wissen, wo ich hingehöre: Ganz in diese Welt und ganz für diese Welt und zugleich ins Herz dessen, aus dem ich gekommen bin. Wenn es immer wieder bruchstückhaft und für einige Momente gelingt, in dieses Wissen, in dieses Spüren einzutauchen, dann kann ich beides: Mich hingebungsvoll für eine gerechte und liebevolle Welt einsetzen und zugleich dabei unheimlich gelassen sein, weil ich weiß, dass es nicht mein Werk ist, ob es gelingt. Ich werde dann beides sein: Ein Kind der Erde und ein Sohn/eine Tochter des Himmels.

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