Du hist ein Gott, der mich sieht: Jahreslosung 2023 – Gen 16, 13
Kirchentag in München, irgendwann in den frühen 90er Jahren. Ich übernachte bei meinem Onkel in Pasing. Als ich – viel zu früh um 7.00 morgens zum Frühstück in die Küche komme, sitzt nur klein Lenchen am Tisch – meine 4 Jahre alte Cousine. Mit herabhängenden Schultern und kläglichem Stimmchen singt sie in einer Art Sprechgesang:
„Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich.“
Die Szene ist so skurril, dass ich zu lachen beginnen. Es ist klar, das Lena mitnichten gerade die erste Kleinkinddepression in ihrem Leben durchmacht, sondern kongenial und gekonnt den Hit nachahmt, den Max Raabe letztes Jahr geschrieben hat und der gerade überall im Radio läuft. Der erste Vers lautet in Gänze:
„Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich
Und ich frage mich, denkt gelegentlich, jemand mal an mich“
Heute, 30 Jahre später, kann ich Max Raabe zurufen: „Ja Max, nicht nur irgendjemand denkt an dich. Nein viel besser, es ist Gott selbst, der dich hört, ja der dich sieht!
So lautet die alte Verheißung, die ein Engel der ausgestoßenen Sklavin Hagar mitten in der Wüste bringt und darauf antwortet die fast Verdurstende: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Gesehen und Gehört werden – das ist eines unserer menschlichen Grundbedürfnisse. Wer das Gefühl hat, ständig übersehen und nicht verstanden zu werden, fühlt sich schnell ausgegrenzt, wertlos, überflüssig. Unser Selbstwertgefühl rutscht in den Keller und entweder werden wir dann ganz stumm oder furchtbar böse.
Schon als ganz kleine Wesen lieben wir den Klang der Stimme unserer Mutter, wir baden in ihren Augen und freuen uns über ihren Geruch. Wir Menschen brauchen Nähe. So sehr, dass wir ohne sie verkümmern.
Vom Staufferkaiser Friedrich II. erzählt man sich, dass er herausfinden wollte, ob es eine menschliche Ursprache gibt. Dazu ließ er zwei Babys von Ammen mit allem Überlebensnotwendigem versorgen, aber es war bei Strafe verboten, mit den Kindern zu sprechen. Sie sind jämmerlich gestorben, obwohl sie doch gefüttert wurden und es warm hatten.
„Du bist ein Gott, der mich sieht“, sagt Hagar zum Boten des Gottes, der sie nicht in der Wüste verdursten lässt, sondern sie und ihr Kind rettet. Allerdings nicht ganz easy peacy – Hagar soll zurück zu ihrem Herrn, dem späteren Stammvater Abraham und va. zu ihrer ungeliebten Herrin, Sara und sich – wie es im Text heißt „unter ihre harte Hand beugen.“
Dass Hagar überhaupt in der Wüste gelandet war, war ihre eigene Entscheidung gewesen, weil sie davon gelaufen war und es nicht mehr ausgehalten hatte bei der eifersüchtigen Sara. Freilich hatte sich auch Hagar daneben benommen und mit ihrem Schwangersein gegenüber Sara geprahlt und damit den Finger in die größte Wunde Saras – ihrer Unfruchtbarkeit – gelegt.
Ich lerne daraus, dass Sehen ambivalent sein kann: Hagar hat Saras Schwäche gesehen und sich selbst damit größer gemacht als sie war. Und Sara hat Hagars Abhängigkeit als Sklavin gesehen und sie prompt gedemütigt. Aus dieser Art von Sehen ist nur Schlimmes entstanden. Es gibt eine Begabung, die Schwäche des Gegenübers zu sehen und auszunutzen.
Von einem solchen Sehen, von solch einer egoistischen Wahrnehmung dürfen wir uns getrost distanzieren, wenn wir lichtvolle Menschen sein wollen.
Wir dürfen wissen, dass Gott uns so sieht, nicht wie wir sind, sondern wie wir sein könnten. Und wenn wir das erleben und spüren, dann wachsen wir in den Menschen hinein, der in uns angelegt ist. Der vielleicht viel lichtvoller und großartiger ist, als wir uns das erträumen würden. Angst, Verteidigung, Abwertung haben dein keinen Raum mehr in unserem Denken und Fühlen. Und das Beste: Wir beginnen dann, andere so zu sehen, wie wir gesehen sind: Voll Liebe und Zuwendung.
Wem es gelingt, dieses Wissen ganz tief in seinem Empfinden zu verankern, wird in Zukunft sicherlich schmunzeln, wenn mal wieder der gute alte Max Raabe erklingt mit seinem:
„Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich“
Wir wissen es dann einfach besser. J
Andy Lang