Eine neue Freundlichkeit

von Andy Lang

Es erscheint mir so, als hätte die Zeit eine neue Freundlichkeit beseelt.

Ich blicke mich um und sehe, wie die Rhododendren in unserem Garten in verschwenderischer Üppigkeit blühen. Ich tauche in den See ein und freue mich daran, wie das kühle Wasser zart meine Haut umschmeichelt. Ich spüre die Wärme des Frühsommers auf der Haut und genieße sie doppelt – nach dem langen Lockdown Winter eine besondere Liebkosung.

Nur bei uns Menschen – zumindest hier in Oberfranken – scheint das noch nicht ganz angekommen zu sein. Viele sind gereizt, gestresst, schnell bereit zum Schießen.

Eine Szene an einem Samstag: In Erwartung meiner Pilger für einen geistlichen Spaziergang im Kornbachtal stehe ich an der Straße zu meinem Grundstück. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie von rechts ein Auto mit zu hoher Geschwindigkeit heranrauscht, gefolgt von vielen weiteren Fahrzeugen. Im Bruchteil einer Sekunde überlege ich: Warte ich nun eine Minute oder renne ich über die Straße? Ich bin gut um Rennen und entscheide mich dafür. Der Autofahrer müsste nicht einmal bremsen. Er tut es dennoch (und ist immer noch zu schnell) und hupt mich an, als wäre ich gegen seinen Wagen getreten.

Eine halbe Stunde später stehen meine Pilger und ich im großen Kreis mit Abstand vor meiner Waldkapelle und ich gebe ihnen die letzten Instruktionen zur Wegstrecke und den geistlichen Übungen. Weil ich mit dem Rücken zu meinem Haus stehe, sehe ich es nicht: Die Polizei kommt meinen Weg hochgefahren. Wir erschrecken alle furchtbar! Ist es etwa immer noch nicht erlaubt, mit Maske und Abstand gemeinsam zu pilgern? Muss jetzt jede(r) von uns ein empfindliches Bußgeld zahlen?

Ich gehe auf den Polizeiwagen zu. Ein durchaus freundlicher Beamter steigt aus und sagt dies: „Wir haben eine Beschwerde erhalten, dass Sie auf der B 2 stünden und Autos anhielten!“ Fast muss ich lachen vor Erleichterung. Die Situation klärt sich schnell auf. Der Beamte steigt in sein Fahrzeug mit den Worten: „Ich hab mir schon gleich gedacht, dass das ein großer Schmarrn ist!“.

Die Pilger atmen auf und wir begeben uns auf eine inspirierende Wanderung mit tiefen geistlichen Erfahrungen.

Ähnliche Erfahrungen machen momentan etliche Menschen: Überzogene Reaktionen, Vorverurteilungen, aggressives Sozialverhalten. Kann es sein, dass uns die Corona Maßnahmen und die subjektiv empfundene Gängelung dadurch jeglicher Frustrationstoleranz beraubt haben? Klar, wir alle brauchen dringend Urlaub und ein wenig Abstand vom Corona Alltag, aber müssen wir deswegen gleich die Contenance verlieren? Mir scheint, als wenn Corona hier ein Katalysator ist, aber nicht die Ursache. Vielmehr ernten wir mit solchem Verhalten die Früchte eine aggressiven Schneller – Höher – Weiter – Mentalität und dem damit verbundenen Wirtschaftsleben.

Wir brauchen dringend eine Pause – Abstand – von unseren selbstgemachten Erwartungen und unrealistischen Wünschen. Und wir könnten lernen von der Natur, die es uns vormacht: Miteinander wachsen und gedeihen.

Aber es gibt Hoffnung! Eine Gegenszene: Nur 4 Tage nach dem Besuch der Polizei bin ich bei meiner Familie in Utrecht. Um die ehrwürdige, gotische Altstadt zieht sich ein Kanal in einem großen Bogen. Die Sonne scheint und ich habe mein Stand Up paddling board dabei. Ich genieße, auf dem Wasser zu schweben und sehe die uralten Blutbuchen, Plantanen und Trauerweiden am Uferrand voll Freude. Dann biege ich rechts in die alte Gracht, die sich vorbei an den berühmten Grachtenhäusern durch die Innenstadt schlängelt. Nach einigen Hundert Metern beginnen die Cafes in doppelter Lage: Unten am Wasser und oben auf der Straße. Sie sind gefüllt mit fröhlichen und schönen Menschen, die sich zum Wochenende bereits etwas Stimmungsvolles angezogen haben. Sie trinken voller Genuss und ohne Masken Prosecco, Kaffee, ein kleines Bier. Als sie mich auf dem Board vorbeipaddeln sehen, winkt mir gefühlt die Hälfte von Ihnen fröhlich zu oder lacht mich an. Ich bade in einem Meer von Wohlwollen, Freude, Genuss des Lebens und weiß gar nicht, wie mir geschieht. Als ich zwei Stunden später von meinem SUP steige (ohne ins Wasser gefallen zu sein ), bin ich wie berauscht – und zwar ganz ohne Alkohol: All die freundlichen, zugewandten und schönen Gesichter haben sich in mein Herz eingebrannt.

Am nächsten Morgen frühstücke ich mit einem Cappucino aus der Siebträger Maschine meines Schwagers am gegenüberliegenden Spielplatz in der Morgensonne. Ein Erstklässler – sie haben gerade Pause und sind von der nahegelegenen Schule zum Spielplatz gekommen – legt seinen Keks neben mir auf den Tisch und sagt fröhlich: „eet smakelijg“ – Guten Appetit! Mir geht erneut das Herz auf.

Es könnte so leicht sein.

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