Erster Advent 2020
Was will werden?

Gedanken von Annemarie Ritter

Wenn ein Kind geboren wird, ist es von einem großen Geheimnis umgeben. Das kleine, noch zerknitterte Gesicht – wem wird es sich zuwenden? Die winzigen Hände – was werden sie anpacken? Die zarten Füßchen – wohin werden sie gehen? Wenn unser Kind größer wird, schauen wir Eltern es manches Mal an und fragen uns, wie sich unser Sohn wohl entwickeln wird; welchen Beruf unsere Tochter wohl ergreifen wird; für wen und für was ihr oder sein Herz wohl schlagen wird? Was will werden? – Wir können es noch nicht sehen, noch nicht wissen – höchstens ahnen. Das vielleicht schönste Geschenk, das wir unserem Kind machen können, ist, ihm seinen ganz eigenen Weg zuzugestehen und darauf zu vertrauen, dass dieser Weg gut und genau richtig sein wird.

Was will werden? – Das bleibt spannend auch für uns Erwachsene, auch in fortgeschrittenem Alter. Wenn ich Menschen auf ihrem inneren Weg ein Stück weit begleiten darf, staune ich oft über die wundervollen Gaben und Möglichkeiten, die sich zeigen und entfalten wollen. Manch einer trägt das Gefühl in sich, dass da noch etwas ist, etwas Wichtiges, Entscheidendes, was zu ihm oder ihr gehört und gelebt werden will. Manchmal klopft es gleichsam an, zart, leicht zu überhören. Manchmal stolpert man geradezu darüber. Manchmal zeigt es sich in leuchtender Klarheit und so überwältigend, dass der- oder diejenige es selbst kaum fassen kann. Das sind wundervolle, berührende, „heilige“ Momente – Weichenstellungen von großer Bedeutung.

Nicht selten sind es die Krisen, die dunklen Zeiten im Leben, die Zeiten, wo wir ganz „unten“ sind und nur noch schwarz sehen, aus denen heraus etwas Neues und Kraftvolles entsteht. In dem Moment, wo wir selbst drin stecken im „schwarzen Loch“, ist das schwer zu glauben. Da tut es gut, wenn jemand da ist, der oder die das Dunkel mit aushält und zugleich das Vertrauen festhält auf das, was werden will – auch wenn es sich noch nicht zeigt.

Was werden will und was wird – es liegt nicht in unserer Hand. HERR, deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, heißt es im 139. Psalm. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.

Was will werden? – Die Frage stellt sich nicht nur in unserem persönlichen, individuellen Leben, sondern auch im Blick auf unsere Welt. So vieles ist ungewiss. So vieles scheint bedroht und aus den Fugen geraten. Wohl niemand, der auch nur halbwegs ehrlich und verantwortlich hinschaut und spricht, könnte behaupten, wir hätten alles im Griff. Nein, haben wir nicht. „You are not in control“, haben wir letzte Woche gelesen.

Vielleicht liegt genau darin das Geheimnis und der Grund für das tiefe Vertrauen, dass werden wird, was werden will – durch IHN.

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Jesaja 9,1

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