Kapitel 7 Kurz: Verletzlich sein statt unantastbar

Ich halte eine anthropozentrische Weltsicht und die notorische Selbstüberhöhung des Menschen für einen wesentlichen Grund, warum es diese Krise und viele andere Krisen wie den Klimawandel und das Artensterben gibt.

Sehen wir uns als Kulturwesen im Gegenüber zur Natur, als Krone der Schöpfung und als Herren der Welt? Oder sind wir Teil dieser Natur, mit allem Lebendigen (und dazu gehören auch Viren und Bakterien) zutiefst verbunden und v.a. abhängig?

Ein Weiser sagte einmal: Es bedarf nur eines kleinen Zahnschmerzes oder eines winzigen Virus um aus einem strahlenden Sieger einen erbärmlichen Wurm zu machen. Wie wahr! Als ich in Irland mit einer Nierenkolik im Bett lag, war ich mit Sicherheit eher Wurm als Pilgerheld. Solche Erfahrungen sind nicht schön, aber sie helfen uns, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Uns in Demut zu üben. Und uns die Rolle zu geben, die wir haben: „Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will“, wie es Albert Schweizer so treffend auf den Punkt brachte.

Daraus ergibt sich die Konsequenz: Es kann nur Heilung für uns individuell und für die Welt kollektiv geben, wenn wir uns kategorisch zu der Verletzlichkeit bekennen, die uns als Menschen auszeichnet. Zu dieser Verletzlichkeit gehört, dass wir endlich sind, dass wir Vieles nicht wissen und dass wir zutiefst voneinander abhängig sind, weil wir tief eingebettet sind in vielfältige Zusammenhänge. Anstelle dieses Wissen als Kränkung zu verstehen, das unser angeblich autonomes Selbst beleidigt, könnte daraus eine große Schönheit entstehen und die Anleitung für nachhaltiges, solidarisches und wertebasiertes Handeln.

Wir befinden uns in einer weltumfassenden Krise, die alle betrifft. Und zugleich hat jeder von uns bereits individuelle Krisen erlebt, die unser bisheriges Leben und wie wir uns darin eingerichtet hatten, in Frage stellten. Berufliche Pattsituationen, Beziehungsabbrüche, Krankheit und Tod sind solche persönlichen Herausforderungen, an denen kein Mensch vorbeikommt. Ich möchte dazu ermutigen, jene Krisen im ursprünglichen Wortsinn zu verstehen: Krisis heißt „Entscheidung“. Die krisenhafte Situation ist eine Herausforderung und Einladung zugleich, eine Entscheidung zu treffen, bisherige Handlungsmaxime und Verhaltensmuster zu überdenken und ggf. anzupassen an die neue Situation. Wir können solch eine Krise als Schicksalsschlag deuten. Damit begeben wir uns in die Opferrolle und geben jegliche Verantwortung, aber auch Gestaltungsmöglichkeit ab. Es ist die bequeme, aber zugleich schlechteste Variante. Eine Huldigung des Status Quo. Ein Einrichten in der Komfortzone.

Lasst uns dagegen mutig sein. Ja sagen zu den großartigen Anteilen, die wir haben und die wir für eine gute Gemeinschaft einbringen können. Und ebenso Ja sagen zu unserer Begrenzung, unseren Wunden, unserem Schatten. Nur so sind wir ein ganzes Wesen, befreit von den Selbstoptimierungsansprüchen einer Aufmerksamkeitsökonomie, die nicht nur Waren, sondern auch Menschen und ihr Selbstbild bis zum letzten Profit stylt und vermarktet.

Ich denke an eine mütterliche Freundin, die nach dem Tod ihres Mannes eher zufällig wieder Kontakt gefunden hatte zu einem Jugendfreund. Nach vielen Briefen und Gesprächen wollten sie sich treffen. Aber meine Freundin war ein bißchen verunsichert. Er hatte sie schließlich zuletzt als attraktive Mittdreißigerin gesehen, nun war sie weit über 60. Sie war nicht dick, aber auch nicht mehr so schlank wie früher, klar! Als sie das sorgenvoll erwähnte, sagte er: „Bring alles mit, was du hast! Ich will dich so, wie du bist!“

Was für eine Erlaubnis! Wie wäre es, wenn wir uns die selber geben:

Wir dürfen klein sein! Weil wir es sind! Wir dürfen um Hilfe bitten! Weil wir sie brauchen! Wir dürfen unsere Hand ausstrecken – weil jemand sie ergreifen wird! Und zugleich gilt: Wir dürfen großartig sein – weil es in uns liegt. Wir dürfen Hilfe gewähren – weil wir es können. Und wir werden unser Hand ausstrecken, weil es Menschen gibt, die sie brauchen.

Wenn wir aus diesen zwei Wahrheiten unser Handeln und unsere Sicht auf uns und die Welt gestalten, werden wir den Platz einnehmen, der für uns weder zu groß noch zu klein ist und der auch Raum läßt für andere: „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will!“

Andy Lang, aus: „Die Krise als Chance“

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