Kultur im Jahr 2021
Ihr Lieben
Ich möchte eine Empfindung mit euch teilen, die mich am Neujahrstag 2021 stark getroffen hat:
Seit Jahrzehnten gehört es für mich zum Ritual des Jahreswechsels, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker zu sehen – obwohl ich gar keinen Fernseher habe, mache ich es immer irgendwie möglich. Und zwar nicht, weil ich großer Fan der Wiener Klassik oder von Joseph Strauß wäre, sondern weil die schwungvoller Walzer, Polkas und Märsche einen Ausdruck von Lebenslust und Hoffnung haben, die einfach gut tun am Anfang des neuen, unbeschriebenen Jahres. Und weil in unserer Familie mein Vater diese Tradition begründet hat und ich ihm, der mir schon seit Jahren vorausgegangen ist, auf diese Weise liebevoll verbunden sein kann. Zugegeben: Ein bisschen sentimental bin ich da schon – und gönne es mir mit einem Schmunzeln.
Heuer jedoch geschah etwas Außergewöhnliches: Traditionell ist das letzte Stück im wechselnden Programm der Jahre immer der Walzer „An der schönen blauen Donau“. Vorher bedankt sich der Maestro beim geneigten Publikum und wünscht zusammen mit den Philharmonikern ein kraftvolles, austrisches „Prosit Neujahr“.
Nun jedoch ergriff Ricardo Muti, ein altgedienter Dirigent , der bereits seit 50 Jahren mit den Wiener Philharmonikern zusammenwirkt, das Wort. Es war eine kleine Predigt, die da kam und die hatte es in sich. Er sagte sinngemäß in den wundervoll glänzenden, aber leeren Saal des Wiener Musikvereins hinein: „Es sind außergewöhnliche Zeiten. Noch nie haben wir hier ohne Publikum gespielt. Den Waffen der Musiker entspringen keine Kugeln, nichts, was tötet, sondern Freude und Hoffnung, die uns lebendig macht! Ich appelliere an alle Staatschefs, Premierminister und Führer der Welt: Kultur ist eine der stärksten Kräfte, die zu Heilung unserer gespaltenen und verletzten Gesellschaften beitragen kann! Wir wünschen allen Menschen Freude, Hoffnung, Liebe und Verbundenheit!“
Ich hatte Tränen in den Augen. Ricardo Muti hatte die Wahrheit auf den Punkt gebracht. Und sie an die richtigen Adressaten gewandt. Immerhin wird das Neujahrskonzert in 90 Ländern übertragen und zu normalen Zeiten ist nicht nur die gesellschaftliche High Society dort im Saal, sondern tatsächlich auch etliche Staats- und Regierungschefs.
Ich finde auch: es ist Zeit, in dieser stillen und heruntergefahrenen Situation darüber nachzudenken, was uns hilft, aufbaut und fördert. Im ersten Lockdown war die Ansage ganz klar und hat sich bisher durchgezogen: Kultur ist nicht systemrelevant. Und es stimmt ja auch: Wenn es ums nackte Überleben geht, kann man durchaus auch mal für eine Weile auf einen Konzert – Theater – oder Museumsbesuch verzichten. Aber auf Dauer verlieren wir unwiederbringlich eine Quelle der Ermutigung und des Trostes, der Erinnerung an die Schönheit und Gebrochenheit unserer Welt, den Ausdruck von tiefer Freude oder Trauer, eben die Darstellung aller menschlichen Empfindungen, die uns eben erst zu Menschen jenseits von nackter Triebbefriedigung macht.
Ich weiß nicht, ob die Staats- und Regierungschefs diese Wort von Ricardo Muti gehört haben oder ihnen Raum geben werden in ihren Entscheidungen. Aber ungleich mächtiger sind wir – die es hören und danach handeln. Das möchte ich euch zusprechen und aller Ohnmacht und vielleicht auch Wut gegenüber Entscheidungen, die wir nicht nachvollziehen können, entgegenhalten.
Ich möchte mit meiner Musik und meinen Texten jedenfalls nicht nur unterhalten und zerstreuen und Öl im Getriebe der Welt sein, sondern ich möchte mich und euch zum Nachspüren und -Denken, zum Verbunden sein und Teilen, zum Hoffnung Empfinden und -Weitergeben anstiften.
Uns so warte ich nun eben und verspreche euch, dass ich zuhause nicht in der Nase bohre, sondern auf die Muse warte, um euch erneut anzustecken mit der Ahnung, das wir gehalten sind und halten können, dass wir – wie es William Butler Yeats bereits vor 100 Jahren sagte* – das Glück haben, gesegnet zu sein und segnen zu können!
Mit Freude
Euer Andy
Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und der böse Geist wich von ihm.
1. Sam. 16, 23
* „it seemed so great my happiness, that I was blessed and I could bless“