Mitgefühl
Gedanken von Annemarie Ritter
Vor einiger Zeit ging ein Interview durch die sozialen Medien, in dem vier- bis achtjährige Kinder befragt wurden zum Thema: „Was ist Liebe?“ Die Gedanken der Kinder dazu sind eindrücklich und teilweise wirklich weise. Eine Erzählung, die mir besonders im Gedächtnis geblieben ist und mich nach wie vor berührt, ist folgende: Ein vierjähriger Junge sieht seinen Nachbarn im Garten sitzen und weinen. Der Nachbar ist schon ein älterer Herr. Vor kurzem ist seine Ehefrau gestorben. Der kleine Junge läuft in den Garten des Nachbarn, klettert auf seinen Schoß und bleibt dort lange sitzen. Als er schließlich nach Hause zurückkommt, fragt ihn seine Mutter, was er denn dem alten Mann gesagt habe? Der Junge antwortet: „Nichts. Ich habe ihm nur geholfen zu weinen.“
Ach, wie viel wir Erwachsenen lernen können von den Kindern… Wir kennen zwar den Spruch: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Aber so unmittelbar hingehen und sich so tief berühren lassen von den Gefühlen des anderen, dass dessen Tränen zu den eigenen werden – das tun wohl nur wenige. Und doch kann viel Trost und heilende Kraft daraus entstehen, wenn wir es wagen.
Mitfühlende Herzen, die braucht unsere Welt – vielleicht jetzt mehr denn je. Mitgefühl ist nicht Mitleid. Bemitleidet werden möchte wohl kaum jemand. Das hilft nicht weiter; macht das Leid eher noch schlimmer. Aber ein mitfühlendes Wesen zur Seite zu haben, das kann zutiefst guttun. Meist braucht es dafür keine oder nur wenige Worte. Im Schweigen fühlt man einander meist besser.
In den vergangenen Jahren sind mir Zeiten im Schweigen draußen in der Natur immer wichtiger geworden. Je stiller ich werde, umso mehr höre und sehe und fühle ich die vielen anderen Wesen. Auch das hat für mich mit Mitgefühl zu tun. Ich bleibe stehen vor einem Baum, lege die Hände auf seine Rinde… fühle sein Leben… oder seinen Tod… Trauer und Freude, Schmerz und Glücksgefühl liegen oft ganz nah beieinander. Für Momente verschwimmen die Grenzen. Ich fühle mehr Verbundensein als Getrenntsein; empfinde die Verletzungen anderer Wesen fast so als wären es meine – und zugleich fühle ich mein Herz so lebendig schlagen wie selten sonst.
In der Bibel findet sich das Wort „Barmherzigkeit“. Barmherzig sein – das bedeutet: mitfühlend sein; ein mitfühlendes Herz haben und sich von diesem Mitgefühl leiten lassen. Es wird zuerst von Gott gesagt. Und weil Gott barmherzig ist, deshalb können und sollen wir es auch sein – miteinander und mit allen Wesen. Diesen biblischen Gedanken hat die evangelische Kirche als Jahreslosung gewählt für dieses Jahr 2021:
Jesus Christus spricht:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Lukas 6, 36