Tage der Stille
Nur mit Schneeschuhen und meinem eigenen Atem bin ich unterwegs auf dem Dakotoa Ridge – einem Waldgebiet in 1200 Meter Höhe im Land der Squamish Indianer im Südwesten von British Columbia. Schritt für Schritt taste ich mich vor auf dem glänzenden und pulvrigem Schnee, der über zwei Meter tief unter mir liegt. Ohne die Schneeschuhe würde ich versinken. Aber auch so versinke ich – in einer Welt der Stille.
Wenn ich stehenbleibe und mein Atem sich beruhigt hat, höre ich – nichts. Es beginnt sachte zu schneien und die dicken Flocken ersticken die letzten Ansätze von Lauten, die leise der Wind in den Bäumen hervorruft. Perfekte Stille. Nichts kann so still sein wie ein verschneiter Winterwald ohne Menschen. Ich weiß, dass überall um mich herum die Schwarzbären sind – in ihrem Winterschlaf, eingegraben in den Boden, bedeckt vom Schnee. Von ihnen kommt kein Laut. Ich höre noch einige Momente meinen Herzschlag, dann spüre ich ihn nur noch.
Solche Stille zu erleben erscheint mir kostbar – und sehr selten. Doch selbst hier kann es noch laut sein – laut in mir. All die Stimmen, die in meinem Inneren leben, die Gedanken, die sich verselbstständigen, die Unruhe, die ich mitbringe an diesen heiligen Ort der Stille. Ich versuche es mit Atmen. Ganz bewusst Ein- und Ausatmen – so folge ich dem Rhythmus meines Lebens, das in mir pulsiert. Ich spüre, wie ich nach einiger Zeit ruhig werde und wie mein Innenleben kongruent wird mit dieser weißen Außenwelt.
Ulrich Schaffer, mein Freund, den ich hier im Westen Kanadas besuche, sagt in einem seiner Texte mit dem Titel „Tage der Stille“:
Es gibt Tage von einer solchen Stille,
an denen meine Stimme
eine Zumutung für den nachdenklichen Planeten ist.
Einen Moment lang hat nichts Stimmbänder …
Ich werde nicht in diese Stille gezwungen,
ich wähle sie, wie man ein Land wählt,
in dem man seine Ferien verbringen möchte.
In dieser Stille begebe ich mich in den Raum,
aus dem die Wahrheit wie ein Fluss fließt,
ohne Worte.
Ich erlaube es, durchsetzt zu werden
von der Energie der natürlichen Dinge:
von einer Felswand mit ihrem steinernen Lächeln,
von der Erhabenheit des Meeres,
die mich zu einem Wanderer des Geistes macht …
Es ist in der Stille,
dass ich mich der Größe der Welt nähere.
Ulrich Schaffer, Unterwegs. Ein Lesebuch, S .73
Wenn das stimmt: Dass erst die Stille uns die Größe und die Wunder der Welt erschließt, dann gilt im Umkehrschluss: Unser geschäftiges Treiben, unser Funktionieren, unsere Pläne und Ambitionen bewirken das Gegenteil: die Welt wird klein, überschaubar, bar ihrer Wunder und Schönheit – sie wird verfügbar. Und wir mit ihr.
Abseitsgehen ist nötig. Die Stille bringt Tiefe in mein Leben. Das Wunder des Lebens neigt sich mir zu.
Das muss nicht an solch einem exotischen Ort sein wie hier, um der Stille Raum zu geben. Mein Küchentisch reicht, wenn ich dort still sitzen kann und nur die Kerze brennt. Der Wald hinter meinem Haus lädt mich ein. In ihm ruft Gott nach mir, weil ER Sehnsucht hat nach seinem Kind, nach sich selbst. In mir kommt Gott zur Welt.
Andy Lang, Gibsons, 4.3. 2023