Wofür seid ihr dankbar?
von Andy Lang
Anfang Oktober feiern die Christen Erntedank. Sie haben es nicht erfunden, aber sie folgen der jahrtausendealten Weisheit, die für die Balance zwischen Geben und Nehmen dankt, ja vielmehr, die weiß, dass das DANKEN Teil dieses lebenswichtigen Gleichgewichts ist.
DANKEN ist nicht sehr en vogue, warum auch? Bei der Dauerbefeuerung mit Bad News in diesen Krisen-, Kriegs- und Klimajahren scheint das Jammern viel angesagter, zumindest realistischer. Und seien wir ehrlich: Es ist auch entlastend, wenn man sich den Frust oder die Sorge einmal so richtig von der Seele schimpfen kann. Das wichtigste Wort in diesem Satz ist „einmal“. Ich habe den Eindruck, dass es heute nicht dabei bleibt, sondern wir in einen Dauerkrisenmodus geraten sind, dem wir uns so schwer entziehen können.
Da könnte die Dankbarkeit ein wichtiges Gegengift sein, denn genau das tut die Sorge mit unseren Seelen: Sie vergiften. Und zwar ohne positive Nebenwirkungen, denn weder hört der Krieg durch unsere Sorge – oder schlimmer noch – durch unsere Schuldzuweisungen auf, noch wird der nächste Sommer weniger trocken.
„Worry gets you nowhere, worry gets you nowhere at all“ dichtet die kanadische Songwriterin Melanie Dekker. Wohin aber bringt uns Dankbarkeit?
Für mich rückt die Dankbarkeit für viele große und kleine Dinge die Welt wieder ein wenig zurecht von meiner verschobenen Wahrnehmung, in die ich bei all zu viel Sorge gerate. Und noch mehr: Sie bringt mich in eine noch lebensfördernde Haltung: Ins Loben.
Ich könnte gerade überschwänglich loben: Ich habe ein freies Wochenende und bin mit Corien an meinem geliebten Bodensee. Genau vor einem halben Jahr bin ich auch hier gelandet – nach 14 Tagen Barfuß Laufen von Gefrees nach Lindau. Es war ein Fest für die Füße auf weichen Waldwegen und taunassen Wiesen, eine Freude für die Augen durch blühende Apfelhaine und wundervolle fränkische Landschaften, ein Genuss für die Seele.
Das glasklare Wasser des Sees, immerhin noch 15 Grad warm, die majestätischen Plantanen und Blutbuchen am Seeufer, die sich anschicken, ihr schönstes Farbenkleid zu tragen, das Lichtermeer von Bregenz auf der anderen Seeseite: All das bringt mich ins Danken und von dort ins Loben. Aber auch: Dass ich gesund sein darf, dass ich in glücklichen Beziehungen lebe, dass ich arbeiten und wirken kann. Schwebende Musik bringt meinen Körper in Schwung, sinnvolle Texte berühren mein Herz.
Heute, im Erntedankgottesdienst in Lindau hat mein Kollege Jörg Hellmuth ein ungewöhnliche Dankgebet mit seiner Gemeinde praktiziert: Die Gläubigen erhoben sich, wie immer, zum Gebet. Jörg hielt seine Hand in die Höhe und sagte mit weit tragender Stimme: „Fünf Finger! Wir haben alle fünf Finger an der Hand. Ich bitte euch, in der Stille für jeden eurer Finger einen Dank zu finden. Wofür seid ihr dankbar?“ Eine Stille breitete sich in der Kirche aus, und das obwohl sehr viele kleine Kinder da waren. Vermutlich haben auch sie verstanden, worum es ging, so schlicht war es, so einfach.
Fünf Finger! Fünf Gründe dankbar zu sein! Wäre das nicht ein guter Anfang? Für Fortgeschrittene sei noch erwähnt: Wir haben zwei Hände!
Dankbarkeit braucht einen Raum. Übung. So kann sie uns zum gewohnten Bezugsrahmen werden, der uns hilft, all die schlimmen Überraschungen, die sorgenvollen Eindrücke und die mediale Befeuerung nicht nur auszuhalten, sondern ihr echt etwas Mächtiges entgegenzusetzen. Dazu brauchen wir nicht einmal besonders fromm sein. Es reicht, rauszugehen, mit offenen Augen und weitem Herz.
So wie es Mary Oliver in ihrem Gedicht „Who made the world“ am Ende sagt:
„Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist.
Mary Oliver
Ich weiß, wie man achtsam ist,
wie man sich hinfallen lässt ins Gras,
wie man im Gras niederkniet,
ich weiß, wie man müßig und selig ist,
wie man durch die Felder streunt:
Das ist es, was ich den ganzen Tag getan habe.
Sag mir, was hätte ich sonst tun sollen?
Stirbt nicht alles am Ende und zu früh?
Sag mir, was hast du vor?
Was ist dein Plan mit deinem einzigen,
wilden und kostbaren Leben?“