Zum Tode Alexej Nawalnys

Seit ein paar Tagen wissen wir es: Der einflussreichste Systemkritiker des aktuellen Russland und der bedeutendste Feind Putins ist tod. Alexej Nawalny wurde im polaren Straflager entweder aktiv getötet oder sein nahender Tod billigend in Kauf genommen. Die Wahrheit darüber werden wir wohl nie erfahren.

Sowohl in Russland als auch bei uns gibt es dazu einen Aufschrei der Empörung. Gefühle der Ohnmacht wechseln mit Wut und dem Wunsch nach Genugtuung.

Nawalny war trotz seiner auch abgründigen und nicht ganz linearen politischen Entwicklung das perfekte Gegenbild zum ruchlosen Imperator. Er stand gegen Korruption und für Demokratie, für eine freie Gesellschaft und die Würde des Einzelnen. In unseren Augen wäre er der bessere Führer der russischen Föderation gewesen, gar ein Kennedy des Ostens. Ebenso wie dieser sah er blendend aus und er hätte den Glamour gehabt, den die Volksseele im Osten so schätzt. Wer weiß, in welche goldenen Zeiten er die Welt geführt hätte, wenn der erst jahrelang schwelende und nun offene Konflikt der verschiedenen Systeme und ihrer Protagonisten sich einfach in Luft aufgelöst hätte. Die Weltwirtschaft hätte wieder geboomt, neue Handelsverträge wären abgeschlossen worden, ein goldenes Zeitalter des Friedens zwischen Ost und West wäre angebrochen. Man darf ja träumen dürfen.

Freilich war Nawalny auch ein patriotischer Russe und er hatte Phasen tiefen Nationalismus.

Ich gebe zu: Auch ich bin entsetzt und verstört über diese neue Volte. Auch ich spüre in mir destruktive Gefühle.

Mit meiner Tochter sehe ich gerade die Serie Game of Thrones. Die abgründigen Grausamkeiten und der manische Machthunger der Fürsten und die Ohnmacht des einfachen Volkes scheint eine in einer Fantasiewelt (mit Drachen, Zaubersprüchen und Untoten) angesiedelte Beschreibung unserer gegenwärtigen Welt zu sein. Vielleicht erklärt sich auch daraus der Hype um die Serie. Tatsächlich gesteht auch der Autor George R.R. Martin, dass er einfach verschiedene historische Ereignisse aus der britischen Geschichte als Vorlage genommen hat. Immerhin sind viele Hauptcharaktere ambivalente Gestalten mit Licht und Schatten, aber es gibt auch mindestens vier, die ausschließlich dumm – böse, grausam – böse, eitel –böse oder einfach abgrundtief böse sind. Und einen, der fast nur gut ist. Was das Herz des Gerechtigkeit liebenden Serienfans halt braucht, denn die Bösen beißen am Schluss alle ins Gras.

Zurück zu uns: Auch bei uns gibt es Streit und unversöhnliche Meinungen, wer denn nun schuld an der ganzen Malaise ist. „Putin Versteher“ ist bei den einen ein Schimpfwort, für die anderen eine Auszeichnung, ehemalige Pazifisten bestellen Waffen, selbst der abwartende Kanzler spricht von einer Zeitenwende.

Das ist die Wirklichkeit an der Oberfläche.

Doch wie sieht es in uns aus? Darf es da verschiedene Stimmen geben? Oder müssen wir alle eindeutig Stellung beziehen und eine Seite wählen – um die andere dann zu verurteilen, auszutreiben, zu bekämpfen. Im Namen des Friedens und der Sehnsucht danach müssten wir dann Freund und Feind benennen und stehen dabei selbst natürlich auf der Seite des Lichts.

Ich vermute, dass jeder von euch in seinem erweiterten Bekanntenkreis Menschen hat, mit denen er/sie sich trefflich über diese Dinge streiten könnte. Oder man vermeidet eben das verminte Terrain und bleibt freundlich – oberflächlich. Sicherlich nicht die schlechteste Variante in manchen Fällen.

Was mir dabei hilft, ist die Ahnung, dass es auch in mir Licht und Schatten gibt, dunkle Seelenanteile, die ich am liebsten gar nicht wahrnehmen würde. Da ist es doch besser, sie auf einen Arsch im Außen zu projizieren und sie mir so vom Leib zu halten, oder?

Ich habe dazu John o`Donohue , den großen irischen Meister der Seele, gefragt. Er sagt:

„Wir empfinden das Negative gerade deswegen als so bedrohlich, weil es uns zur Ausübung einer Kunst der Barmherzigkeit und Selbsterweiterung auffordert, vor der sich unser kleinliches Denken aufs Entschiedenste sträubt …

Dieser Rhythmus der Selbstbergung verlangt uns Großzügigkeit und Risikobereitschaft ab, und zwar nicht nur im inneren, sondern auch im äußeren, zwischenmenschlichen Bereich. Dies dürfte das schwierige Terrain sein, von dem Jesus sprach, als er uns ermahnte: „Liebet eure Feinde.“ Wir können bei der Auswahl unserer „Feinde“ nicht vorsichtig genug sein. Eine erwachte Seele sollte nur würdige „Feinde“ haben. Ein würdiger Feind kann uns unsere negativen Seiten und unsere Möglichkeiten offenbaren. Unsere Feinde lieben zu lernen bedeutet, eine Freiheit jenseits allen Grolls und aller Bedrohung zu erringen.“ (Anam Cara, das Buch der keltischen Weisheit, S.137)

Wow, das scheint eine gewaltige Aufgabe zu sein. Und eine gefährliche! Denn solch ein Wissen um die tieferen und verborgenen Anteile unserer Seele führt ja nicht zu einer weltabgewandten, kontemplativen Glückseligkeit, in der uns das Leiden der Welt nicht mehr berührt. Genau im Gegenteil führt es uns zu Mitgefühl: Als erstes mit uns selbst und unserer ganzen Gebrochenheit und dann mit den unerlösten Ereignissen im Außen.

Ich werde also weiterhin für Demokratie eintreten und auf die Straße gehen. Ich werde weiterhin das Gespräch mit potentiellen AFD Wählern suchen und ja, ich will sie auch überzeugen, dass die Alternative keine ist. Und zugleich werde ich wissen, dass all der Streit da draußen auch tief in mir ist.

Ich denke, das ist der einzige Weg zum Frieden.

Andy Lang, 19.2. 2024

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