Ewigkeitssonntag 2020

Als ich vor 7 Jahren bei einem Männerseminar in einem abgelegenen Tal in den schottischen Highlands einen ganzen Tag schweigend, fastend und meditierend mit mir allein verbringen sollte, wurden mir und allen Männern 4 nummerierte Briefumschläge mitgegeben. Wir sollten sie im Laufe des Tages öffnen, jeden einzelnen zu einem anderen Zeitpunkt, der uns als angemessen erschien. Keiner von uns wusste, was darin stehen würde. Es stellte sich später heraus, dass jeder Umschlag ein Din A 4 Blatt enthielt, auf dem ein einziger Satz stand. Jeder dieser Sätze hatte das Potential, uns in den Grundfesten unseres Selbstbewusstseins zu erschüttern. Es waren allesamt Zumutungen und Wahrheiten, von denen man auf einer oberflächlichen Ebene sagen könnte: Ja, stimmt schon. Aber auf einer tieferen, existentielleren Ebene – und so wollten wir sie ja betrachten- waren diese Sätze eine Herausforderung. Körperlich geschwächt durch das Fasten und ausgesetzt in wilder Weite ohne jegliche Anzeichen von Zivilisation standen wir der Wucht der Wahrheit nackt und ohne die Schranken unserer erlernten Abwehrfunktionen gegenüber. So kam es, dass diese Zumutungen uns verwandeln konnten.

Als ich am späten Nachmittag das dritte Kuvert öffnete, las ich dort die 5 Worte: You are not in control – du hast keine Kontrolle. Das zu lesen und wirklich auf sich wirken zu lassen ist eins – aber es am eigenen Leib zu erfahren, ist etwas ganz anderes.

Unser Alltag suggeriert uns das Gegenteil: Wir stehen auf und machen uns an unser Tagwerk. Wir planen, timen, kaufen ein, versorgen die Familie, arbeiten – in der Regel funktioniert das.

Was aber, wenn wir krank werden? Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren? Wenn eine Beziehung zerbricht? Oder wenn – so wie für uns alle – eine Pandemie und ihre Gegenmaßnahmen uns sämtliche Pläne und Aussichten verhagelt?

Wir haben keine Kontrolle!

Es ist kein schöner Satz. Aber je eher wir diese Wahrheit einladen, auch einen Platz in unserem Leben und seinen Vollzügen zu bekommen, desto weniger müssen wir kämpfen, krampfhaft festhalten, wütend werden, wenn es nicht so läuft wie geplant.

Ich schreibe das mir selber, denn auch ich bin wütend: Über die Hinhaltestrategie unserer Regierung, über Konzerte, die vielleicht schon wieder abgesagt werden müssen, über die Ohnmacht, die ich hier erlebe. Und dennoch: Es ist auch eine Übung für mich, diese alte Wahrheit wieder zu meditieren und anzuwenden: Du hast keine Kontrolle!

Bei aller Zumutung ist das für mich auch ein erlösendes Wort. Wenn es Dinge gibt, die viel größer sind als meine eigenen Einflussmöglichkeiten, ergebe ich mich – vielleicht sogar mit Gelassenheit – und verbittere nicht. Es wird eine neue Zeit kommen, die mir mit mehr Freundlichkeit begegnet.

Der Ewigkeitssonntag lädt uns dazu ein: Anerkennen, wo wir stehen. Dass wir nur Gast auf dieser Erde sind. Und dennoch gerufen in eine größere Wirklichkeit hinein zu wachsen. Wollen wir uns darauf einlassen?

Ich bin gewiß dass weder Tod noch Leben
Weder Engel, noch Mächte, noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist,
unserem Herrn.

Römer 8, 38 – 39

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