Helfen, na klar, aber wie?

Eindrücke von der ukrainisch – ungarischen Grenze von Andy Lang

Ein strahlender Donnerstag morgen Mitte März, exakt zwei Wochen nach Kriegsbeginn: Mein Freund Stefan und ich bauen den 6. und 7. Sitz in meinen Caddy und brechen auf; unser Ziel: Zahony im Nordosten von Ungarn. Der kleine Grenzort an der Außengrenze der EU ist exakt so groß wie mein Heimatort Gefrees: knapp 5000 Einwohner zählt das verschlafene Nest mit postsozialistischem Charme, wenn nicht gerade in der Nachbarschaft Krieg ist. Jetzt aber kommen Tausende Menschen täglich mit dem Zug aus Ushgorod über die Grenze und sprengen die logistischen Möglichkeiten des Grenzstädchens. Dennoch werden sie hier erst einmal registriert, medizinisch versorgt und wenn nötig untergebracht. Die meisten wollen allerdings durchreisen nach Westeuropa – entweder mit dem Zug nach Budapest und von dort sternförmig weiter oder mit privat organisierten Shuttle Bussen nach Deutschland, Frankreich oder die Beneluxstaaten.

Im österreichischen Wels treffen wir auf den größeren Teil unseres spontanen Teams: Pfarrer Oliver Behrendt vom spirituellen Zentrum der ev. Kirche in Nürnberg hat ebenfalls seinen Freund eingepackt: Oleg ist Übersetzer für Russisch und Englisch, außerdem spricht er fließend ungarisch und versteht ukrainisch. Sehr hilfreich! Ebenso seine Mutter Inna und Yuliya, eine Studentin für international communication aus Den Haag. Die drei verbindet ihre russische Muttersprache und ihre jüdischen Wurzeln: Yuliya wurde in Moskau geboren, Inna und ihr Sohn Oleg kommen ursprünglich aus Charkiw. Alle drei wohnen seit über 20 Jahren in Deutschland und wollen jetzt helfen, wo die Not am größten ist.

Pfarrer Behrendt war letzte Woche mit Oleg schon einmal in Zahony. Sein Eindruck war: es gibt überwältigende Hilfsangebote, aber niemanden, der die Helfer vernetzt und dadurch die Hilfsangebote noch effizienter an die Flüchtenden vermittelt, die sich selbst Reisende nennen. Letzte Woche hatte Oliver Behrendt bereits fleißig Netze geknüpft, hat einen heißen Draht zum Bürgermeister vor Ort und einen freundschaftlichen Kontakt zur reformierten Kirche Ungarns aufgebaut, die hier als größte NGO (Nicht Regierungs Organisation) hilft. Seine Idee einer zentralen Anlaufstelle für private Helfer und NGOs wird von beiden Seiten begeistert aufgenommen, aber niemand kann sie hier umsetzen, weil sie bereits alle Hände voll zu tun haben. Also besorgt Oliver ein großes Zelt der ev. Jugend Nürnberg, lässt auf die Schnelle Plakate und Hinweisschilder drucken, besorgt sich ein paar Tage Urlaub und überzeugt mich, mitzukommen ins Chaos.

Sonnenuntergang über Wien, das behäbig und selbstbewusst in seinem Tal liegt – kurz danach die ersten Hinweisschilder nach Serbien, Rumänien und Ungarn: Der Balkan liegt vor uns. Nach der ungarischen Grenze geht es 500 km durch brettebenes Land, vorbei an Budapest – die nächsten Städte sind kaum auszusprechen, weil in Magyar eine wilde Abfolge von Konsonanten en vogue ist – bis wir müde und erschöpft nach 14 Stunden Fahrt und 1200 km an unserem Ziel ankommen: Der Schule von Zahony, die als Flüchtlingsnotunterkunft dient (in der Turnhalle stehen 120 Feldbetten) und hoffentlich auch uns aufnimmt. Mein erster Eindruck: Am Eingang steht ein Desinfektionsmittelspender und einige wenige Leute tragen Masken, aber Corona scheint hier kein big deal zu sein – und das am zweiten Jahrestag des ersten Lockdowns! „Ober sticht Unter“ ist eine Schafkopfweisheit oder eine größere Krise schluckt die kleinere. Weit nach Mitternacht müssen wir sechs Helfer aus Franken uns erst einmal gegen ein Missverständnis wehren: Man will uns als Flüchtlinge registrieren! Mit Olegs Ungarisch können wir das recht schnell aufklären und bekommen sogar zwei Zimmer mit Stockbetten zugewiesen, die eigentlich den Schülern gehören – die haben zum Glück Ferien. Meine erste Lektion: Flüchtende sehen aus wie wir: übermüdet, aber nicht abgerissen. Am nächsten Tag sehe ich mit eigenen Augen hübsche Menschen mit der Art von Reisegepäck, das man eigentlich an einem Urlaubsflughafen erwartet. Dazwischen natürlich auch alte und erschöpfte Menschen, Mütter mit geduldigen Kindern und immer wieder auch: bettelnde Frauen mit Babys, die so ganz anders aussehen und nicht mit den Zügen aus Osten kommen: es sind ungarische Roma, die wohl wegen der zahlreichen Hilfsangebote an Kleidung und Nahrung kommen. Ich bin ein bisschen irritiert, wie man die Not der Flüchtenden für seine eigene Zwecke gebrauchen kann, aber ich höre abends von einem Mitarbeiter des UNHCR (des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen), dass es noch viel schlimmer geht: Es gibt Berichte von verschwundenen Frauen, die mit irgendwelchen unregistrierten „Helfern“ mitgefahren sind und nun wohl einem Menschenhandelsnetzwerk zum Opfer gefallen sind. Der Mitarbeiter ist sichtlich angeschlagen und den Tränen nahe von diesen furchtbaren Dingen und sagt: „Gute Absichten können schreckliche Dinge nach sich ziehen“. Gerade deswegen ist es so wichtig, hier Qualitätsstandards der Hilfe zu setzen und eine genaue Koordination und Datenerhebung zu gewährleisten – unser Job also.

Obwohl wir unsere zentrale Anlaufstelle mit den Postern und einem Tisch in der Bahnhofshalle erst am zweiten Tag aufbauen können, finden uns schnell unsere ersten „Klienten“: Robert und Jan Boardman aus Utha in den USA wollen für ihre solvente Freikirche einen größeren Betrag an Spendenmitteln zur Verfügung stellen und klären nun vor Ort, wie das Geld ihrer Gemeindeglieder am sinnvollsten anzulegen ist. Wir sprechen lange mit Ihnen (auch Englischkenntnisse sind hier gefragt) und schließlich können wir sie mit dem Bürgermeister László Helmeczi von Zahony vernetzen. Er erklärt ihnen, dass für eine nachhaltige und ggf. längere sinnvolle Hilfe vor Ort drei Container für ärztliche Soforthilfe, Registrierung und Notversorgung sehr hilfreich wären, weil die Bahnhofshalle bei Ankunft der Züge hoffnungslos überfüllt ist – und das bei nächtlichen Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Jan und Robert sind überzeugt und glücklich zugleich, weil sie das Gefühl haben, dass ihre Hilfe hier wirklich gebraucht wird und das hierin eine sinnvolle Investition liegt: Immerhin fließen um die 25.000 €!

Eine völlig andere story: In der Nacht kommt ein Konvoi einer LKW Fahrschule aus Duisburg an: zwei Busse und zwei LKWs mit 60 Tonnen Hilfsgütern im Wert von 50.000 €, darunter auch verderbliche Waren. Das Lager in Zahony, eigentlich ein Kulturzentrum, ist viel zu klein für dieses Übermaß an Hilfe und Oleg telefoniert stundenlang, bis die Güter endlich in die Ukraine einfahren dürfen und dort direkt an die Menschen verteilt werden können. Der nächste Tag ist gefüllt mit Gesprächen am Bahnhof auf der Suche nach 90 Leuten, die mit den freien Busplätzen ins Ruhrgebiet reisen wollen. Erstaunliche Erkenntnis dabei: Es kursieren allerlei Fake News unter den Ukrainern über Deutschland: Wir seien gegen die Ukraine, heißt es, weil wir die Regierung nicht unterstützen (eine Folge unserer großzügigen 5000 Helme?) und man dürfe keinen Flüchtlingsstatus beantragen, weil man sonst nicht mehr in die Heimat zurückkomme. Inna, Yuliya und Oleg legen sich richtig ins Zeug, um diesen Quatsch aufzuklären. Schließlich verlassen die beiden Busse am Abend vollgepackt das Grenzstädtchen gen Westen.

Eine letzte Begegnung: Am Abend kommen zwei fitte Typen aus Freiburg mit einem Sprinter voller Hilfsgüter an. Diesmal ist das Lager vor Ort der richtige Platz und wir helfen, die Sachen auszuladen. Matthias und Stefan sind die Nacht durchgefahren und wollen nun auf dem Rückweg 6 Leute auf den freien Plätzen mitnehmen. Wir überzeugen sie, dass sie erst einmal schlafen sollten und rücken in unserem Zimmer zusammen. Am Abend noch findet Oleg 6 geeignete Personen – zwei Mütter mit einem Kind und eine Kleinfamilie. Ich frage Stefan, warum sie sich auf den Weg gemacht haben er sagt leidenschaftlich: „Ich kann mir doch auf meinem gemütlichen Fernsehsessel im beschaulichen Freiburg nicht den Hintern plattsitzen und alles aus der behüteten Distanz ansehen, während hier die Luft brennt! Ich wollte einfach in die Pötte kommen und was machen!“. Die Freiburger Bahnhofsmission hat dann die Aktion der beiden Familienväter logistisch unterstützt; ihre Frauen waren weniger enthusiastisch und verabschiedeten sie mit den Worten: „Wenn ihr das braucht, dann fahrt eben!“ Einen Abschiedskuss gab es trotzdem.

Alice stößt zu unserem Team. Die hippe junge Frau aus dem Silikon Valley ist ein besonderer Fall: Sie wurde in Wladiwostok geboren und hat noch einen russischen Pass, lebt aber schon seit 20 Jahren in den USA. Als sie sieht, was ihr Muttervolk dem kleinen Nachbarn antut, besorgt sie sich spontan ein Ticket nach Budapest, mietet sich einen Van und hilft hier vor Ort beim Transport der Flüchtlinge. Sie spricht Englisch mit amerikanischem Akzent und natürlich fließend Russisch und wirkt hier als echte Brückenbauerin. Einen ganzen Monat will sie da bleiben, sie arbeitet wie ein Tier und schläft wenige Stunden in der Nacht und weiß bereits jetzt: Diese Aktion wird sie noch lange beschäftigen in ihrem Leben.

Es gäbe aus den drei Tagen hier noch viel zu erzählen, aber eines steht deutlich im Vordergrund: Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend und sie kommt von privaten Leuten ebenso wie von gemeinnützigen Vereinen und Kirchen. Wo viel Dunkelheit ist, leuchtet das Licht besonders hell und Europa scheint aufgrund der Bedrohung zusammenzuwachsen. So bunt und vielfältig ist hier das Bild der Helfer und es herrscht ein schier babylonisches Sprachengewirr.

Aber wie können all die helfen, die von zuhause tun wollen und solidarisch sein wollen mit den Menschen aus der Ukraine? Natürlich kann man Geld spenden, denn die Hilfsbedürftigkeit wird anhalten. Betriebe und Unternehmen könnten sich überlegen, ob sie ukrainische Mitarbeiter einstellen – Oleg erzählt mir, dass er mit vielen kompetenten und gebildeten Reisenden gesprochen hat: Von der Starköchin über die IT Experten bis hin zu Profimusikern sind fast alle Berufsbilder vertreten, während ungelernte Leute eher in der Minderzahl sind. Gabriele Sehorz, die Präsidentin des Bundes der Selbständigen, hat in einem Rundschreiben explizit darauf hingewiesen: Wer jetzt Menschen in Not Großzügigkeit und Geduld entgegenbringt, sichert sich u.U. langfristig dankbare und wertvolle Mitarbeitende. Wer für 2 – 4 Wochen Menschen aufnehmen kann bei sich, sollte nicht zögern die Landratsämter oder das digitale Netzwerk www.Gastfreundschaft-Ukraine.de zu kontaktieren – dort haben bereits fast 20.000 Menschen knapp 40.000 Plätze angeboten. Wir selbst haben eine Ferienwohnung „freigeschaufelt“ und werden eine Mutter mit zwei Kindern aufnehmen. Denn wir kennen die irische Weisheit und haben sie schon oft selbst erlebt: In der Gestalt eines Fremden kannst du einen Engel beherbergen.

Spendenkonto des spirituellen Zentrums der ev. -luth. Kirche in Bayern:

IBAN DE 46 5206 0410 0 201 5708 03, EKK. Kennwort: Ukraine Help Zahony

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