Leerzeit

Wir sind in der Mitte des Oktobers angekommen. Formal haben wir seit knapp einem Monat Herbst, denn die Tag und Nachtgleiche war heuer am 22. September. Hier im Fichtelgebirge war in den letzten Wochen eine Tristesse und Nebeligkeit, die sich mir auf das Gemüt gelegt hat. Der Altweibersommer fiel heuer aus und die goldenen Oktobertage ließen auf sich warten. Und so wusste ich manchmal nicht so recht, wohin mit mir! Ich hatte viel Zeit, aber wenig Muße, sie zu füllen und ich habe Dinge aufgeschoben, weil es sich egal anfühlte, ob ich sie heute, morgen oder wann auch immer erledige. Ich habe sogar begonnen, Leute zu beneiden, die einen geregelten Tagesablauf haben, einen 9 to 5 Job und ich hatte dann sofort ein schlechtes Gewissen, weil Neid sicherlich keine adäquate Haltung ist, aufs Leben zu schauen. Na gut, ich war nicht wirklich neidisch, aber ich war auch nicht in meiner Kraft.

Ich glaube, jeder kennt solche Zeiten: Sie begegnen uns als amorphes Gewaber und zerrinnen zwischen unseren Fingern. Die Tage vergehen und wir wissen nicht so recht, womit. Kein schönes Gefühl. Es scheint die Gegenerfahrung zur Alltagshektik zu sein, wo ein Ding das nächste jagt und wir gar nicht wissen, wo wir anfangen sollen. Am Ende solcher Tage bin ich zwar erschöpft, aber auch zufrieden, weil ich ordentlich was geschafft habe: ich habe ein Tagwerk vollbracht. Nun fühle ich mich eher um den Tag gebracht – und zwar von mir selbst.

In mir entsteht eine leise Ahnung, dass es solche Leer- Zeiten braucht – vielleicht sogar dringender, als mir lieb sein mag. Ich erinnere mich an die Liedzeile „in uns′rer Hektomatik-Weltdreht si′ alles nur um Macht und Geld“ aus dem STS Song „Irgendwann bleib I dann dort“ und ich staune, dass dieses Lied schon über 40 Jahre alt ist! Könnte so eine Leerzeit – selbst wenn sie nicht erwünscht ist – so etwas wie passiver Widerstand sein gegen ein manisches System, das nur Wachstum kennt und darum seine Protagonisten in den Burn out treibt?

Ich beginne, meine Leerzeit als Lehrzeit zu begreifen und sie als Perle und nicht als Problem zu betrachten. Ich weiß, dass mein Körper und meine Seele weiser sind als mein Wille, mein Alltagsbewusstsein und meine Pläne. Ich bin in diesen vergangenen Wochen scheinbar in Resonanz gegangen zu meiner Außenwirklichkeit und habe eine wichtige Erfahrung (wieder) machen dürfen:

Die Welt dreht sich auch ohne mich weiter!

Ich bin nicht so wichtig!

Das entlastet mich. Und auch wenn sich die Leere immer noch unangenehm und ungewohnt anfühlt, versuche ich nun, sie nicht zwanghaft zu füllen mit Plänen und Aktionen.

Seit zwei Tagen wagt sich jetzt die Sonne wieder hervor. Sie küsst die Erde und besonders liebkost sie die Buchen und Eichen in unserem Garten, den Ahorn und die Linde. Sie entflammt die Pracht ihrer Blätter und liefert uns ein Spektakel der Schönheit. „Die Erde ist zum Bersten voll mit Himmel und jeder gewöhnliche Busch steht mit Gott in Flammen“, sagt Elisabeth Barret Browning, die großartige britische Romantikerin des 19. Jahrhunderts, die auch Rainer Maria Rilke so inspirierte.

Ich will diesen Himmel suchen und gehe nach draußen. Ich laufe durch eine Buchenallee und spüre, wie mein Geist sich hebt und mein Gemüt sich klärt. Ich freue mich an der Luft, den Farben, der Stille und der Kraft, die mich Schritt um Schritt mehr in die Einheit führt.

Ich weiß noch nicht, ob meine Leerzeit bereits zu Ende ist oder ob ich sie noch eine Weile mit mir habe. Aber mein Blick darauf hat sich verändert. Ich bin dankbar für beides: Für Fülle und für Leere, denn ohne einander könnte nichts Neues entstehen.

Andy Lang

Schreibe einen Kommentar zu Gisela