Muße – küsst sie mich?

Von Andy Lang

Das Ende der langen Ferien naht. Ist es uns gelungen, worauf wir immer wieder hoffen: Abstand vom Alltag zu bekommen, die Seele baumeln zu lassen und etwas Schönes an einem anregenden Ort zu sehen und zu erleben? Mit anderen Worten: Uns von der Muße küssen lassen?

Aber was ist das eigentlich, diese Muße und wo treffen wir sie an?

Hat die Muße denn überhaupt eine geistliche Qualität, so dass wir in diesem Rahmen darüber nachdenken können?

Ohne allzu tief in die Begriffsgeschichte des Wortes einzutauchen, können wir uns wohl einfach darauf verständigen: Muße bezeichnet einen Zustand absichtslosen Inspiriertseins!

Wer von der Muße geküsst wird, fühlt sich seinem normalen Alltagsempfinden mit all seinen Ansprüchen, Erwartungen und Sorgen ganz plötzlich und ohne eigenes Zutun enthoben. Es ist also eine Erfahrung unerwarteten Entrückt Seins. Plötzlich fühlen wir uns leicht, frei, glücklich. Und ganz besonders und v.a.: inspiriert!

Gedankenknoten sind gelöst, neuronale Netze werden neu und ungewohnt verbunden, wir staunen selbst über diesen Zustand seligen Seins. Ideen und Einfälle finden uns, um die wir uns vorher hart bemüht hatten. Nun fallen sie uns einfach zu.

Während ich diese Worte schreibe, befinde ich mich in einem mußeähnlichem Zustand. Daher wäre es treffender zu sagen: die Worte finden mich. So erlebe ich es auch mit den meisten meiner Lieder: selten „schreibe“ ich sie und wenn ich es tue, kommt nicht einer meine besten songs dabei heraus. Eher schreiben die Lieder mich und oft geschieht dies auf der grünen Insel in ihrer Weite und Wildheit.

Nun bin ich allerdings im Landhaus meiner Freundin Suzanne im hügeligen Burgund. Suzanne ist eine Künstlerin, die ich schon seit 20 Jahren schätze. Obwohl sie als Malerin und Bildhauerin arbeitet, ist ihre größte Kunstform stimmige Raumgestaltung. Keiner hat ein tieferes Gefühl für Farben und Materialien und die Zusammenstellung schöner und praktischer Dinge wie sie. Wenn Suzanne einen Tisch deckt, ist es ein Kunstwerk. Wenn sie wilde Farben für einen Raum zusammenstellt, denkt der Normalo: „Was, das geht doch nie!“ Nachdem der Raum dann gestrichen ist, kann man sich nicht mehr vorstellen, wie es je anders hätte sein können und mag sich gar nicht sattsehen an den ungewöhnlichen, aber zutiefst stimmigen Kombinationen. Ein Meisterwerk war ihre Idee, an einer Wand ihres Wohnzimmers eine riesige Zinkplatte anzubringen. Als der beauftragte Klempner das Unterfangen umsetzen sollte, schüttelte er erst nur mit dem Kopf. Als er dann aber das fertige Resultat sah und wie sich die schönen, von Suzanne selbst aus Naturamaterialien hergestellten Lampen mit ihrem warmen Licht vielfältig an der Zinkwand spiegelten und ihr Licht in vielen Brechungen verströmten, war ein sprachlos.

In diesem Interieur Paradies darf ich also einige Tage verweilen. Und mich von der Muße küssen lassen.
Wenn dies geschieht, ist es immer so, dass als angemessene Reaktion auf diesen Kuss etwas von mir in die Welt zurückfließen will. Idealerweise etwas, das ebenfalls eine mögliche Inspiration für andere ist: Ein schöner Text, ein Lied, ein Gedicht. So wie im Moment eben, indem ich diese Zeilen schreibe.

Die Muße bewirkt also ein Hin und Herließen kreativer Energie.

Eins jedoch tut Not: wenn sich so ein Zustand abzeichnet, dann muss der Beschenkte gehorsam sein: denn dieses Erleben ist ja immer Geschenk und niemals verfügbar, auch wenn wir uns durchaus bewusst einer möglichen Begegnung mit der Muße aussetzen können. Er oder sie muss alles liegen und stehen lassen, alle möglichen Pläne fahren lassen und sich ganz diesem Zustand hinhalten, ja sogar aussetzen. Tut er das nicht, geht die Inspiration vorüber und der Moment ist verloren. Von meinem Kollegen John Doan weiß ich, dass er in diesem Kontext von Demut und Gehorsam spricht. Wenn ihn, den Meister der Harfengitarre, eine Melodie trifft, lässt er alles sein und gibt sich ganz diesem Geschehen hin — und „fängt die Inspiration“, die durch seine Meisterschaft und seine Phantasie dann eine wunderbare neue Komposition wird.

Künstlerfreunde von mir haben ein neues Seminar für Künstler zusammengestellt, das 2023 erstmals bei uns in Gefrees stattfinden wird und Kreative unterstützen soll, ihre Gaben und Segnungen miteinander zu teilen und von einander inspiriert zu werden. Sie haben es „created to create“ genannt, kurz: C2C, auf Deutsch: geschaffen, um zu schaffen.

Spätestens hier sind wir beim geistlichen Bezug der Muße: die zweite Schöpfungserzählung in Genesis 2 spricht von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen: zum Bilde Gottes schuf ER ihn, und ER schuf sie als Mann und Frau. Gott ist in dieser Erzählung der Ursprung allen Lebens und die Quelle aller Kreativität. Mit unendlicher Liebe, Zärtlichkeit und Phantasie erschafft er diese wundervolle, bunte und vielfältige Welt. Er beruft uns dazu, seine Mitschöpfer zu sein und ergibt uns eine riesige Palette von Gaben dazu: unseren Verstand und unsere analytischen Fähigkeiten, unsere Intuition und unseren Körper – das Medium aller Kommunikation. So vielfältig und vielschichtig schafft Gott seine Menschen, dass die Möglichkeiten des Schaffens schier unbegrenzt sind. Und so sind auch die Möglichkeiten und Wirkweise der Muße — oder wollen wir sie Gottes Geist nennen, seine heilige Ruach?

Ob der heilige Geist uns bewegt und befeuert, ob „sie“ ihn und mit uns tanzt, liegt nicht im Geschick von uns selbst, denn bekanntlich weht der Geist, wo er will. Aber wir können uns verfügbar machen, uns hinhalten, uns der Begegnung aussetzen.

Wahrscheinlich führt der Weg uns von dorthin in die Weite, dort wo alles Enge und Einschüchternde hinter uns liegt.

Dann haben wir viel mehr als einen netten Urlaub gemacht, der uns ein wenig Abstand vom Hamsterrad verschafft hat. Wir sind vielmehr getroffen worden vom Geheimnis, was es bedeutet, Mitschöpfer zu sein.

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