Warten auf den Frühling
von Andy Lang
Ihr Lieben
Kennt ihr das: Ihr merkt, dass das Maß langsam voll wird. Das Fass ist noch nicht übergelaufen, aber es füllt sich zusehends. Ihr denkt: „Noch ein bisschen mehr, und ich kann nicht mehr!“ Dünne Haut, blanke Nerven, Sehnsucht nach dem turning point.
Ich bin eigentlich ein Winterfan. Wenn hier im Fichtelgebirge der erste Schnee fällt – und es hätte diesmal nicht magischer sein können: Zum Glockenklang um 6.00 am Weihnachtsmorgen, als sich 40 Unverzagte zusammen mit mir zu einer alternativen Open Air Christmette (wegen Ausgangssperre in die Morgenstunden verschoben) an unserer Waldkapelle getroffen hatten – dann freue ich mich wie in Kindertagen. Ich hab als gestandener Mann immer noch meine Freude an einer Schneeballschlacht oder einer rasanten Schlittenfahrt. Ich bin in den letzten Wochen fast täglich langlaufen gewesen.
So auch am letzten Montag, aber: es war zum ersten Mal nervig. Der Zauber war verflogen, die Magie dahin. Ich hab gemerkt: Auch an mir hat der lange, einsame Winter gezehrt. Und ich bin noch ein Glückspilz: Gesegnet mit einer lieben Familie, mit Freunden und einer wundervollen Landschaft, mit einem Haus zum Wohlfühlen. Es könnte so viel einsamer, unglücklicher, aussichtsloser sein! Und jetzt kommt ja zum Glück auch der Frühling und ich merke, wie die Sonne mir unglaublich gut tut.
Nun sitze ich vor dem Kamin und höre eine alte CD: Dougie Mclean, ein großer Held des schottischen Folks. Er wohnt nur wenige Meilen nördlich von the Bield, unserem tollen christlichen Gästehaus, in dem ich seit 10 Jahren mit meinen Schottlandpilger sein darf.
Zu einer unendlich melancholischen Melodie singt Dougie mit seiner klangvollen, warmen Stimme:
These winter nights are long for me
Diese Winternächte sind lang für mich
Long, so long, so long for me
lang, so lang, lang für mich
From these burren praries, endless floor
von diesen öden, endlosen Weiten
I cannot hear the crushing shore
kann ich das Rauschen der Wellen nicht hören.
Ihr könnt den song hier hören, ab 3.01 beginnt dieser Vers:
Ich kenne den song schon lange, aber er trifft mich heute tief ins Herz. Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Die Sehnsucht übermannt mich: Sehnsucht nach Zeichen der Hoffnung, nach Aufbruch! Meine Nasenflügel verzehren sich nach dem Duft des Frühlings, mein Herz braucht Gemeinschaft und Inspiration, Freude und Ausgelassenheit. Wege aus der Angst, Pfade aus der Einsamkeit! Ich wäre eigentlich jetzt mit meinen Pilgern in Irland!
Die Kanzlerin hatte uns auf einen harten Winter eingeschworen.
Und wir haben ihn noch nicht ganz hinter uns. Immerhin: Im Gegensatz zur Fantasiewelt von „Game of Thrones“ wissen wir, wann der Winter endet – zumindest kalendarisch.
Was hilft mir also in dieser Zeit?
Mein Blick geht vom Kamin zum Tisch. Meine liebe Frau hat zum Valentinstag einen bunten Tulpenstrauß gekauft – Holländerin durch und durch. Bei einem frostigen Spaziergang am Sonntag habe ich einen Busch mit Palmkätzchen gesehen – und trotz der eisigen Temperaturen waren einige schon aufgesprungen. Ich habe mir als Zeichen der Hoffnung einige wenige Ästchen mitgenommen und sie in den Blumenstrauß gesteckt.
Ein Lächeln überzieht mein Gesicht. Die Tränen sind getrocknet. Und ganz vorsichtig, so wie die Palmkätzchen, öffnet sich mein Herz und ich weiß: Meine Sehnsucht wird nicht unerfüllt bleiben!
Meine Oma sagte: „Jetzt gehts nauswärts“
Ich will es ihr gern glauben – und weit entfernt und ganz schwach, glaube ich das Rauschen der Wellen zu ahnen.
Römer 13,12: Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen.