Was hat die Krise denn eigentlich Gutes?

Vor einigen Tagen machte ich mit meiner Frau und einer Freundin einen Spaziergang.

Da fragte Corien unvermittelt: Was hat denn Corona für euch Positives gebracht?

Meine erste Reaktion war: Wow, gute Frage! Ist es denn nicht so, dass wir in unserer Alltagswahrnehmung bei krisenhaftem Geschehen – so wie jetzt – erst mal eine ganze Litanei an Nachteilen, Einschränkungen, Frustrationen aufsagen könnten? Das Negative liegt obenauf und bestimmt unsere Empfindungen und von daher auch die Gesamteinschätzung der Lage. Nachvollziehbar! Auch für mich hat ja die gegenwärtige Situation viel Schwieriges zu bieten, obwohl ich selber weder krank bin noch in meinem unmittelbaren Umfeld um erkrankte Menschen bangen muss. Ich denke mir geht es so, wie vielen von Euch.

Und nun fragt Corien: Was hat Corona Positives für dich? Ich finde diese Frage so wichtig, dass ich mein 4. Kapitel aus meinem neuen Buch „Krise als Chance“ um eine Woche aufschiebe und euch und mich gern mit dieser Frage konfrontieren mag, denn: erste Erleichterungen im sozialen Leben, die Umwidmung der Ausgangsbeschränkung in Kontaktbeschränkungen und das Öffnen aller Läden lässt ja bereits eine gewisse „alte“ Normalität wieder zu. Letzte Woche hab ich euch erzählt, dass das Überqueren der B2 vor meiner Haustür im Moment einem Spaziergang gleicht. Heute ist es schon wieder anders – nämlich so wie früher.

Bevor wir also nahtlos dort anknüpfen, wo wir aufgehört haben, sollten wir innehalten und uns diese Frage stellen, weil sie ein großes Potential enthält. Jeder, der schon einmal gefastet hat oder sich einer Schweigezeit ausgeliefert hat, weiß das: Tiefe Einsichten kommen dann aus den unbewussten Schichten unserer Persönlichkeit, wenn wir uns des normalen Alltagsablaufes enthalten und auf vitale Vollzüge verzichten – so wie das Reden, das Essen, das in Gemeinschaft sein. Letzteres war uns ja allen in den letzten acht Wochen ziemlich reduziert worden. Ein ungewohnter Zwang einerseits, eine große Chance aber andererseits.

Bevor ihr jetzt weiterlest und gleich meine persönliche Antwort auf Coriens Frage erfahrt, bitte ich euch, eine Pause in diesem Text zu machen. Holt euch einen Stift und einen Zettel und schreibt als Überschrift: „DANKE CORONA, DASS …“

Und dann nehmt ihr euch ein paar Minuten und schreibt einfach drauf los, was euch einfällt, ohne lange zu überlegen.

Na, wie wars? Ich wäre sehr gespannt auf eure Einsichten. Falls einige von euch einen Kommentar auf meiner site hinterlassen wollen und ihre Erfahrung so mit uns allen teilen würden, freue ich mich! Und jetzt enthalte ich euch meine Antwort nicht länger vor:

Grundsätzlich gilt für mich: ich bin sehr glücklich mit meinem Leben und meinem beruflichen und privaten Wirken. Ihr fehlt mir allerdings echt und ich empfinde es als belastend, dass ich seit genau acht Wochen keinen Ton mehr für euch spielen durfte und es in den Sternen steht, wann das wieder möglich ist (ich hoffe auf Juli!) Aber wie bei so vielen von euch gibt es manchmal bei mir auch Zeiten, wo alles ein bisschen viel wird. Eigentlich lauter schöne Dinge, aber in der Summe zu viel. In meiner Welt heißt das: Konzerte, Pilgerreisen, Gespräche, viele mails, ein paar Baustellen, Begegnungen (meist sehr inspirierend) und natürlich (mit großer Freude): Für meine kids da sein, mit ihnen Sport machen, sie von A nach B kutschieren. Ein guter Freund sagte schon vor Jahren zu mir: Weißt du Andy, man kann sich auch mit Schönem zuscheissen! Krass formuliert, aber wahr.

Nun aber fiel in den letzten Wochen fast alles davon weg. Nach einer Zeit der Trauer und dann auch immer mal wieder der Empörung (ganz normal für einen Trauerprozess) hab ich schließlich meinen Frieden damit gemacht. Ohne passiv zu werden, habe ich mich in das Unvermeidbare gefügt (und das hat viel Energie gekostet) und die Lage angenommen. „Lass es jetzt gut sein, Andy“, hab ich mir oft dabei gesagt. UND: es wurde gut. Es ist ein Vakuum entstanden, das ich scheinbar gebraucht habe, um anderen Dingen einen Raum zu geben. Mir hat es große Freude gemacht, auf der Metaebene über diese Krise und alle Krisen nachzudenken und daraus ist ja mein Buch entstanden. Das hätte ich sonst niemals so empfunden und daher auch nicht aufgeschrieben. Und dieses Vakuum machte Lust auf mehr: ich hab meinen Kleiderschrank ausgeräumt, meine Werkstatt in Angriff genommen, im Garten aufgeräumt und das Beste dabei: ich hab das alles mit Muße und Langsamkeit getan und nicht mit der sonst andymäßigen Turbogeschwindigkeit. Und dann hab ich mich hingesetzt und das Ergebnis genossen.

Mir wurde ganz klar: Die Eingriffe der letzten Wochen in unser aller Leben haben auch Platz gemacht zum Nachdenken: Wo sind denn meine Prioritäten? Brauche ich wirklich alles, was ich so angesammelt habe an Dingen, Verpflichtungen, Menschen? Vielleicht ist jetzt die Zeit, einige Beziehungen zu klären? Was tut mir gut und was ist heilsam für meine Umgebung?

Letztlich wissen wir es ja alle: Weniger ist mehr! Verzicht kann auch Freude bedeuten. Es braucht die Stille, die Ruhe und die Langsamkeit, um wirklich Wichtiges im Leben zu empfinden und zu entscheiden.

Das möchte ich mir bewahren aus diesem Corona Lockdown: Ich gehe langsam. Mit Freude. Ganz bewusst. Nicht immer. Aber immer wieder! Vor 3 Wochen hab ich am Ende meiner Gedanken Rainer Maria Rilke zitiert aus seinem Brief an einen jungen Dichter. Der Beginn seiner Gedanken passt heute für mich genau hierher und trägt die Überschrift: Über die Geduld:

„Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist Austragen – und
dann Gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…“

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