Wenn wir miteinander reden wollen, müssen wir zuerst zuhören können

Auswege aus dem Teufelskreis der Spaltung

von Andy Lang

Ein Neues Jahr hat begonnen. Neue Chance, neues Glück. Oder geht alles so weiter wie bisher? Zugegeben: Das Alte Jahr endete nicht sehr verheißungsvoll – wir stolperten von der vierten Welle nahtlos in die fünfte. Viele Menschen sind müde und erschöpft nach zwei Jahren Pandemie. Aber nicht nur diese, sondern besonders auch die Maßnahmen gegen die Pandemie strengen an, regen auf, schränken ein. Dabei ist es zunächst nicht schlecht, einmal unseren bisherigen Lebensstil zu überdenken, denn jede Krise hat auch enormes Potential zur Reifung.

Dennoch: Wir müssen nach zwei Jahren anders mit der Situation umgehen, von den vergangenen Erfolgen wie Fehlern gelernt haben, unsere Strategie anpassen. Mir scheint, dies geschieht zu wenig – weder im privaten Bereich noch im gesellschaftlichen Raum.

Was mir Sorgen macht: Menschen hören auf, miteinander zu reden. Sie verunglimpfen sich gegenseitig, weil sie nicht einer Meinung sind. Vor kurzem noch enge Freunde, heute unversöhnliche Gegner bezüglich der Coronamaßnahmen. Es beginnt immer mit der Wortwahl.

Ein total liebenswürdiger Kollege sagte neulich zu mir auf die Frage, ob er geimpft sei (ist es überhaupt noch politisch korrekt, so eine Frage zu stellen?): „Ich bin doch nicht blöd!“ Ich bin geimpft. Darf ich also daraus schließen, dass ich ein Trottel bin? Weil ich ihn sehr mag, hab ich es einfach so stehen gelassen. Vielleicht war ich auch etwas perplex. Ein anderer toller Kollege, spritzig, wort- und zugewandt sagte zu mir: „Diese bescheuerten Impfverweigerer – lauter Esospiris und sonstige Verrückte“.

In beiden Situationen fühlte ich mich unwohl. Weil ich es versäumte, mit diesen beiden so unterschiedlichen Freunden darüber zu reden, wie wir miteinander reden können, tue ich es nun hier.

“Was zum Teufel ist eigentlich mit uns passiert? Ich meine, mein Gott, wie können wir noch miteinander reden? Was haben wir uns angetan? Wie bringen wir das wieder in Ordnung?”

Dieser verzweifelte Ausruf markiert den ersten Höhepunkt in der grandiosen Netflix Satire „Don´t look up“, die bereits alle streaming Rekorde gebrochen hat:

Der Astrophysiker Dr. Randall Mindy, kongenial gespielt von Leonardo die Caprio, entdeckt mit seinem Team einen Kometen von der Größe des Mount Everest auf direktem Kollisionskurs mit der Erde. Obwohl die wissenschaftlich fundierten Berechnungen eine 100% ige Kollision vorhersagen, beharrt die populistische, blonde Präsidentin der Vereinigten Staaten (unschwer als weiblicher Trump zu erkennen) darauf, nur von einer 70 % Trefferwahrscheinlichkeit auszugehen, denn „alles andere könne man den Leuten ja nicht zumuten“. Im Frühstücksfernsehen fragt der blendend gelaunte Moderator den Professor, ob der Komet nicht auf ein spezifisches Haus gelenkt werden könnte – das seiner Exfrau. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Und so torkelt ein von sich selbst berauschtes Partyvolk, das die eigene Wertigkeit nur noch durch clicks und likes zu bestimmen versteht, ins vorhersehbare Desaster. Der Grund ist nicht eine kosmische Katastrophe (wie in „Deep Impact“) oder die nicht vorhandenen Mittel, den Kometen von seiner Bahn abzulenken, sondern:

Weil wir nicht mehr zuhören können. Weil wir nur noch uns selbst bespiegeln. Weil wir alles andere ausblenden, was nicht in unsere Weltsicht passt. Weil die Filterblasen auf beiden Seite unsere Brille geworden ist, die Wirklichkeit zu sehen. Weil jeder zu allem eine Meinung haben muss! Plötzlich sind wir ein ganzes Volk von Epidemiologen und Virologen geworden.

Wie also bringen wir das wieder in Ordnung?

Ich möchte mit euch drei Ideen teilen, die uns auf dem Weg zu einem neuen Miteinander in einer versöhnten Verschiedenheit bringen könnten. Eigentlich bezeichnen diese Ideen Haltungen, mit denen wir uns in der Welt positionieren.

1. Ich vertraue meiner Intuition!

Viele Menschen spüren, was für sie stimmig ist. Wenn wir so bescheiden sein können, diese Intuition nur für uns selbst in Anspruch zu nehmen, lassen wir anderen die Freiheit, für sich selbst zu entscheiden. Und im Zweifelsfall eben anders zu entscheiden als ich. Entscheidungen werden nur zu einem Bruchteil von rationalen Überlegungen beeinflusst. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Es sind eher unsere Grundgefühle von Urvertrauen oder Urangst, unsere Dispositionen von Optimismus oder Pessimismus, unser Neigung, uns als Opfer zu fühlen oder unangefochten in unserer Kraft zu stehen. Wenn wir anerkennen, dass all dies das Hintergrundrauschen zu einzelnen Entscheidungen ist, können wir selbstreflektierter und damit reifer unsere Entscheidungen als das betrachten, was sie sind: Entscheidungen FÜR UNS. Aber eben nicht für die ganze Welt.

2. Ich bin nicht so wichtig!

Was wie eine Beleidigung oder eine freche Zumutung klingt, ist in Wahrheit ein Wort der Freiheit. Natürlich bin ich wichtig für mich selbst und meine Lieben. Aber weder ich noch irgend jemand hat eine globale Bedeutung. Je weniger aufgeblasen unser Ego ist, desto gelassener können wir Dinge und Menschen aushalten, die das Potential haben, uns aufzuregen. Wir werden unbeleidigt und das ist eine große Quelle von Frieden. Ich denke an meine mütterliche Freundin Barbara, eine Heldin der Gelassenheit und Großzügigkeit. Das kritischste, was ich sie jemals über jemanden anders habe sagen hören war: „So iss er halt“. Was für ein Segen! Barbara ist für viele Menschen da, aber sie muss niemanden verändern. Wenn wir einmal begriffen haben, dass der einzige Mensch, den wir wirklich verändern können, wir selbst sind, wird ein wahrhaft barbaraesker Frieden von uns ausgehen.

3. Ich weiß etwas, wir alle wissen mehr

Ich lerne von der Council Arbeit indigener Völker, der Hopi Indianer zum Beispiel. Wenn eine wichtige Entscheidung anstand, konnte jeder im Kreis etwas dazu sagen, wenn er an der Reihe war. Keiner Aussage wurde widersprochen, nichts wurde kommentiert. Alles wurde wertschätzend wahrgenommen, auch abseitige Meinungen. Nachdem jeder gesprochen hatte, hatte eine Wahrheit im Raum Gestalt angenommen, die größer war als die Einzelwahrheiten der Einzelnen. Dann erst konnte abgestimmt werden.

Die Person wird von ihrer Meinung getrennt. Es gibt also keine persönlichen Diffamierungen wie in unseren Kabinetten, sondern eine gemeinsame Suche nach der für die Situation besten Wahrheit. Ich habe diese Gesprächsmethode schon oft erlebt auf meinen Pilgerreisen, Seminaren oder in der Männerarbeit. Erst gestern schrieb mir eine Teilnehmerin des letzten Seminars: „Diese ehrliche liebevolle Gemeinschaft von uns allen war für mich ein kostbares Erlebnis.”

Zugegeben: Wir mussten keine politischen Entscheidungen treffen, die für eine ganze Nation gelten sollen. Aber wir haben geübt, wirklich einander zuzuhören. Unser Gegenüber wahrhaftig wahrzunehmen. Zu prüfen, was dabei für mich als Perle oder auch Auftrag erkennbar wurde und was nicht mich bestimmt ist.

Jede und jeder von uns kann dazu beitragen, dass wir wieder Wege zueinander finden!

Von uns BürgerInnen erhoffe ich, dass wir bei allem, was wir sagen, die Frage bedenken: Baut es auf oder zerstört es, was ich jetzt sage. Wertschätze ich, oder werte ich ab? Empörung ist gut bei Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit, aber nie als beleidigte Reaktion auf persönliche Zumutungen.

Von den PolitikerInnen erwarte ich eine verbindende und ehrliche Kommunikationsstrategie. Fehler dürfen benannt und eingeräumt werden. Das Wort „alternativlos“ gehört aus dem politischen Diskurs verbannt. Maßnahmen müssen angemessen und v.a. als nachvollziehbar empfunden werden können. Ad hoc Regieren und Basta Politik untergräbt das Vertrauen in die demokratische Grundordnung und schadet dem Bewusstsein, selbst mitwirken zu können für das Große Ganze. Stigmatisierungen von Minderheiten erhöhen den Druck zur Radikalisierung. Ich wünsche mir hier egofreie und weise EntscheidungsträgerInnen, die nicht nur verkünden, sondern erst einmal gut zuhören.

Von den Medien fordere ich eine ausgewogenere und weniger reißerische Berichterstattung und Recherche. Es ist ein Skandal, wenn auf einer friedlichen Demonstration mit 12 000 TeilnehmerInnen ein paar Dutzend Rechtsradikale gefilmt werden und dann hinterher ausschließlich Bilder vom „Sumpf der Coronagegner und Neonazis“ gesandt werden. (Bekannte von mir waren vor Ort, sie sind die friedliebensten Menschen, die man sich wünschen kann) So macht man effizient Feinde und untergräbt nachhaltig die eigene Vertrauenswürdigkeit. Die Leitmedien haben aber in unserem Land die unaufgebbare demokratische Funktion der unparteiischen Ansage. Werden sie erst einmal (berechtig oder unberechtigt) als „gleichgeschalten“ erlebt, nimmt unsere Demokratie schweren Schaden.

Irgendjemandem muss ich glauben. Daher ist der unaufhörliche Einsatz für einen seriösen und verantwortungsbewussten Journalismus ein hohes Ziel demokratischen Handelns.

Jede und jeder von uns kann dabei mitwirken, dass wir die Gräben überwinden, dass wir einander wieder in die Augen sehen, dass wir miteinander reden, uns vielleicht sogar entschuldigen und verzeihen.

Irgendwann wird Corona vorbei sein.

Wie wollen wir dann einander begegnen?

Schreibe einen Kommentar zu Helmut Kuffner