Wer stark sein will ,muss schwach sein können

Gedanken zum Karfreitag von Andy Lang

Karfreitag ist der höchste christliche Feiertag. Natürlich nur in der Theorie. Im Jahreskreislauf hat seit geraumer Zeit das propere Christkind dem Gekreuzigten längst den Rang abgelaufen. Verständlich. Es ist ja viel naheliegender, sich über ein Neugeborenes zu freuen als auf einen geschundenen Mann am perfidesten Folterinstrument der Antike zu schauen. Was also soll am Karfreitag so wertvoll sein?

Nun, wir könnten hier ein Geheimnis des Lebens bedenken und idealerweise einüben, das unserem Leben Tiefe und Bestand geben würde. Es heißt: Es gibt kein Leben ohne Schmerz und Schwachheit! Aus unserer Verletzlichkeit könnten Ströme des Segens fließen! Vor der Auferstehung liegt der Tod!

Ich meine das durchaus nicht so fromm, wie es vielleicht klingt, sondern habe es selbst erlebt: Als ich mir in einer besonderen beruflichen Situation endlich eingestanden hatte, gescheitert zu sein, wurde ich plötzlich ganz frei von meinem zwanghaften Versuch, die Situation zu retten. Und ich fühlte mich auch so: frei, etwas Neues zu wagen. Es konnte ein neuer Weg vor meinen Füßen beginnen und der hat im Nachhinein gesehen so viel Sinn, Bedeutung und Segen erhalten, dass ich mich heute wundere, wie lange ich damals gebraucht habe, mir mein Scheitern einzugestehen.

Das was im individuellen Leben schwer fällt (und bestimmt könnte jeder von euch so eine Geschichte erzählen), ist für uns als Gesellschaft noch schwerer, weil wir den falschen Werten aufsitzen. Wer ökonomisch nur erfolgreich sein kann bei beständigem Wachstum, wird sich zu Tode wirtschaften. Die Zeichnen dafür kann jeder sehen, der Augen hat und ein Herz: zunehmende Depression und Burnout Erkrankungen, geschundene Natur und sterbende Wälder auf der einen Seite und manischer Wohlstand auf der anderen Seite.

Ein Beispiel dieses rücksichtslosen Wirtschaftens aus Gefrees: Wir leben neben der Araltankstelle. Dort gibt es eine Waschanlage. Seit einer Woche ist das Tor defekt und der Reparaturservice lässt auf sich warten, weil er aus Vertragsründen aus Leipzig kommen muss, obwohl wir hier direkt am Ort einen zuverlässigen Tore Bauer haben, der die Anlage sofort reparieren könnte. An schönen Tagen wie gestern haben die Menschen den unbedingten Drang, ihr Auto zu waschen- auch nachts um 22.00 und am Sonntag. Ein Waschvorgang dauert ca. 5 Minuten, die letzten knapp 2 Minuten setzt die Trocknung ein – mit einer solch hohen unangenehmen Frequenz, dass man das Hunderte von Metern weit hört. Meine Nachbarin hat manchmal Migräne. So auch am Sonntag. Sie wäre fast durch die Decke gesprungen. Aber der Profit ist eben wichtiger als die Gesundheit von Menschen – oder auch nur der gesunde Menschenverstand, der uns davon abhalten könnte, nachts Autos zu waschen und damit anderen ihren Schlaf zu rauben.

Könnte das ein tieferliegender Grund für die Pandemie sein? Dass wir es endlich begreifen? Ich fürchte, wir wollen alle nur raus aus diesem Albtraum und unser normales gewohntes Leben zurückhaben. Klar! Aber wie viel besser und tragfähiger könnte dieses Leben nach der Pandemie sein, wenn wir unsere Lektion lernen würden: Dass es Zeiten gibt im Leben, wo es hakt, wo wir eine Auszeit brauchen, wo etwas Neues sich anbahnt und darum Geburtsschmerzen zu ertragen sind.

Auch Jesus wollte nicht gerne leiden. „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen“ bat er seinen himmlischen Vater unter Tränen. Und hat ihn dann doch getrunken. Wenn er es nicht getan hätte, wäre er nicht der Christus geworden, dessen Leiden Millionen von Menschen in ihrem Leiden getröstet hat und ihnen die Kraft zum Durchhalten gab, weil sie sich nicht allein fühlten an jenem Ort des Verzweifelns.

Wir brauchen die Ermutigung dazu: Du darfst leiden, du darfst schwach sein, du musst nicht immer funktionieren. Wenn wir das von geliebten Menschen zugesprochen bekommen, kann diese Erlaubnis zu einer tiefen Transformation führen. So wie der Schriftsteller Jeff Foster es an einen lieben Freund schreibt, der seine über alles geliebte Frau verloren hatte: „Dein kostbares Herz ist jetzt so ungeschützt und blutet so sehr, mein Freund. Keine Worte können Dich trösten. Aber ich möchte, dass Du weißt: Ich bin an Deiner Seite. Du bist nicht allein an diesem uralten Ort. Trauere heute über die Veränderung der Form, über Deine geplatzten Träume, über ihre neu gefundene Freiheit. Versuche nicht, „glücklich“ darüber zu sein. Glücklich sein wäre jetzt eine Lüge für Dich. Beeile Dich auch nicht, damit Du geheilt wirst, versuche auch nicht, Dich „besser zu fühlen“. Das wird kommen. Heute ist ein Tag, um das Leid zu ehren und die Ungewissheit, die Du jetzt spürst, die Macht des Lebens in den Gefühlen zu spüren, die Du jetzt fühlst, und nicht zu glauben, dass alle Fragen beantwortet werden müssen oder dass Du in einen Raum gehen müsstest, in dem Du „schon okay“ wärst oder in dem Du „es geht schon“ sagst. Es ist vielmehr okay, dass Du Dich gerade gar nicht okay fühlst. Unser Herzen sind jetzt bei Dir, alle diejenigen von uns, die geliebt und verloren haben und ihre Illusionen loslassen mussten. Wir sind viele. Dies ist ein uralter Übergang, kein Fehler, keine Strafe…“

(Jeff Foster, Umarme Dein Leben, wie es ist, 2018)

Ich wünsche uns einen ehrlichen Karfreitag – und eine Umarmung unseres ganzen Lebens, die trägt!

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