2: Alles ist im Wandel statt Immer weiter so

Ich sehe es noch direkt vor Augen, dieses Diagramm in meinem Geschichtsbuch in der fünften Klasse: ein Überblick über die Geschichte von den prähistorischen Anfängen über die Antike und das Mittelalter hinein in die Neuzeit und die Moderne. Klar und übersichtlich auf einer Zeitleiste mit den entsprechenden Jahresangaben. Wir mussten die Zeitperioden auswendig lernen.

Das ist das klassische Geschichtsverständnis eines Kulturvolkes: Geschichte ereignet sich linear, auf einem Zeitstrahl, zielgerichtet, verständlich, rational. Und so nehmen wir ja auch unser eigenes Leben wahr: von der Wiege bis zur Bahre eine beständige, nach vorne gerichtete Entwicklung. Wir wachsen und reifen, wir werden immer klüger und reicher, größer und einflussreicher.

Ein solcher Blick mag einige Plausibilität haben, aber er ist nur eine Seite der Wirklichkeit. Und er verkürzt, ja ignoriert die Wahrheit von Brüchen, Umwegen, unvorhergesehenen Ereignissen positiver wie negativer Art, Sackgassen, Scheitern. Aber all das sind zutiefst menschliche und menschlich machende Erfahrungen, die keine Abweichung von der linearen Norm sind, sondern die Norm selbst. Solange wird aber unser Leben und die Geschichte, in die es eingebunden ist, als beständigen Aufwärtstrend und Vorwärtsbewegung verstehen, verzweifeln wir an der Erfahrung des Gegenteils und glauben, dass wir scheitern.

Das Gegenteil ist der Fall! Wer niemals scheitert, ist entweder ein Lügner, ein außergewöhnlicher Glückspilz oder ein rücksichtsloser Durchsetzer, der alle Widerstände plattwalzt.

Unser Leben und auch unsere Geschichte entwickelt sich nicht linear und schon gleich gar nicht rational. Es sind gerade die Umwege und die unvorhergesehenen Einladungen des Lebens, die uns auf eine neue Ebene bringen können. Richard Rohr, der visionäre Franziskanerpater und Männercoach, sagt: „Ab 35 lernen wir Männer nur noch aus unserem Scheitern und kaum noch aus unseren Erfolgen.“

Mit dem Scheitern ist das so eine Sache. Niemand will das natürlich. Wir wollen, dass uns die Dinge gelingen. Und zugleich würde doch jeder von uns im Rückblick sagen: Da, wo ich am meisten im Leben gereift bin und wo ich wirklich etwas Wesentliches begriffen habe, bin ich vorher an meine Grenzen gekommen, vielleicht sogar gescheitert.

Ich möchte euch ein aktuelles Beispiel aus meinem eigenen Leben erzählen:

Kurz vor meinen Pilgerreisen nach Irland bin ich immer ganz aufgeregt. Wer kommt mit und welche Erwartungen haben die Menschen? Kann ich sie erfüllen? Geht alles gut? Obwohl ich rational weiß, dass das Quatsch ist, es sowieso nicht um mich geht und dass ich aus der Erfahrung von über einem Dutzend Jahren Pilgern wissen sollte, dass es immer gute Lösungen gibt, bin ich unruhig.

Heuer dagegen ging tatsächlich fast alles schief: Zwei Tage vor Abreise wurde meine Köchin krank und konnte nicht mit. In Irland war unser Seminarraum umgestaltet und konnte nicht als gemeinsame „Höhle“ dienen. Schließlich hatte unser Bergführer eine Lebensmittelvergiftung, einer unserer Fahrer wurde von einem Grippevirus erwischt und beim Hauskonzert meiner wundervollen Kollegin Caitriona lag ich mit unerklärlichen Schmerzen im Bett – das erste Mal in 35 Pilgerreisen, dass ich ausfiel! So etwas hatte es noch nie gegeben. Kleine Änderungen, die uns zum Improvisieren einluden, ja, aber solche Schwierigkeiten, in dieser Häufung? Never!

Was soll ich sagen? Es war eine der schönsten Reisen! Wir haben einfach gemeinsam, mit kreativem Improvisieren, mit Humor, mit Gruppenintelligenz und mit einer Leichtigkeit, die ich so noch nicht kannte, das Beste aus den jeweiligen Situationen gemacht – und das Beste war manchmal sogar besser als das Geplante. Das Essen schmeckte, die Bergtour war anders, aber auch toll, den Fahrdienst konnte ein Mitpilger übernehmen und ich selbst fiel an einem Abend aus, als sowieso jemand anders im Mittelpunkt stand. Alles wurde gut, ja sogar besser, weil wir dadurch lernten, was wir gemeinsam mit der richtigen Haltung alles schaffen konnten.

Ich gehe davon aus, dass ich beim nächsten Mal deutlich entspannter auf die Reise zugehe, weil ich nun nicht nur weiß, dass es nicht um mich geht, sondern weil ich es konkret erlebt habe.

Wenn wir also unser eigenes Leben und die menschliche Geschichte nicht allein linear wahrnehmen sollten, wie dann?

Alle Naturvölker sind sich einig, dass sich sowohl individuelles als auch kollektives Leben in Kreisen bzw. in einer Spirale vollzieht. Dieser Ansatz wird sofort plausibel, wenn wir bedenken, dass es kein Leben außerhalb der immer wiederkehrenden Jahreszeiten und des ewigen Laufs der Sonne und des Mondes gibt. Verbunden mit der Schöpfung, wie sie waren, gaben z.B. die Kelten mit dem großen Medizinrad den Himmelsrichtungen, aber auch den Jahreszeiten bestimmte metaphorische Bedeutungen, die sowohl auf das individuelle Leben als auch auf den organischen Ablauf von Projekten bezogen werden konnten.

Bei den Kelten beginnt alles mit der Traumzeit, deren Schwelle man an Samhain (1. November) überschreitet und sich damit in die Zeit des Winters begibt. Zeit zum Ruhen, zum Träumen, zum Austragen und Neuwerden. In dieser Zeit verorteten die Kelten sowohl den Beginn (Zeugung) als auch das Ende des Lebens. Es ist eine kostbare Zeit, deren Qualität nicht durch Schaffen und Produktivität erzeugt wird, sondern die sie in sich selbst trägt und dadurch den Raum gibt für Visionen, Ideen und Neubeginn. Wer nur am Werkeln und Arbeiten ist, wird keinen Raum für Neues finden.

Deswegen ist JETZT das Zeitfenster, das wir nutzen müssen auf dem Weg in die neue Welt: Solange die Produktionsbänder still stehen und die Autobahnen fast leer sind, solange unser hektischer Alltag ausgehebelt ist: Solange ist die Traumzeit!

Lasst sie uns nutzen! Es ist schwer, ich weiß. Auch ich habe Angst. Wann kann ich wieder Konzerte geben? Werde ich weiter meine Familie ernähren können? Kann ich nach Schottland zum Pilgern? Jeder von euch hat da seine eigenen Fragezeichen.

Geben wir der Angst nicht so viel Raum, aber weiten wir unser Denken und Fühlen für die Hoffnung, das kreative Neudenken und ein solidarisches Verständnis von Gemeinschaft und Wirtschaft! Wir können es. Glauben wir es auch?

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Gute Gedanken:

  1. Die richtigen Fragen stellen statt altbewährte Antworten bemühen
  2. Alles ist im Wandel statt Immer weiter so
  3. Von der Schöpfung lernen statt Erde ausbeuten
  4. Gemeinschaft leben statt Egotrip
  5. Verzicht macht Spaß, Konsum höhlt aus.
  6. Staunen statt Rennen
  7. Verletzlich sein statt dem Recht des Stärkeren zu huldigen
  8. Wertschätzen statt spalten
  9. Gott wohnt in uns statt „homo deus“

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